Keiner will den Stein geworfen haben

Wer hat den 24-jährigen Russlanddeutschen Kajrat B. getötet? Heute fällt das Urteil im Prozess gegen fünf junge Männer aus Brandenburg. Das Verfahren war schwierig. Staatsanwalt und Nebenkläger stießen bei Zeugen auf „Mauer des Schweigens“

von HEIKE KLEFFNER

Im Prozess um den Tod des 24-jährigen Russlanddeutschen Kajrat B. wird heute im Landgericht Neuruppin das Urteil gesprochen. Der junge Spätaussiedler und Vater eines Kleinkinds war im Mai 2002 von einer Gruppe junger Männer im Anschluss an eine Techno-Veranstaltung im brandenburgischen Wittstock zunächst brutal geschlagen und getreten worden. Tödliche Verletzungen erlitt Kajrat B., als er wehrlos am Boden lag und ein mehr als 17 Kilogramm schwerer Feldstein auf seinen Oberkörper geworfen wurde. Kajrat B. starb drei Wochen später im Krankenhaus; sein jüngerer Begleiter Maxim K. überlebte schwer verletzt.

Wegen Totschlags hat die Staatsanwaltschaft für drei von fünf Angeklagten – einen 21-jährigen Maurerlehrling, seinen 22-jährigen Freund und einen vorbestraften 23-Jährigen – Haftstrafen von acht, neun und zwölf Jahren gefordert. Bei zwei weiteren Angeklagten sieht Staatsanwalt Kay Clement lediglich den Tatbestand der Körperverletzung und fordert vier Jahre Haft bzw. eine Bewährungsstrafe. Die Verteidiger plädierten für niedrige Strafen. Der Verteidiger des 23-jährigen Patrick Sch. forderte einen Freispruch, sein Mandant habe „aus Notwehr geschlagen“. Patrick Sch. soll nach Ansicht der Staatsanwaltschaft den tödlichen Feldstein geworfen haben.

Mehr als 50 Zeugen hat das Gericht in den vergangenen zwei Monaten gehört. Drei Fragen standen dabei im Mittelpunkt: Wer warf den tödlichen Stein? Wie kam es zu der Auseinandersetzung zwischen den beiden jungen Russlanddeutschen, die zufällig in die Gaststätte geraten waren, und der Gruppe befreundeter Wittstocker? Und welche Rolle spielten Fremdenfeindlichkeit und Rassismus?

Die Suche nach Antworten war mühsam: Man habe vor einer „engen Mauer des Schweigens“ gestanden, sagen Staatsanwalt Clemens und Nebenklagevertreterin Undine Weyers. Die Rechtsanwältin, die Kajrat B.s Mutter vertritt, weist darauf hin, dass mindestens zwanzig junge Männer und Frauen zusahen, als die beiden Russlanddeutschen attackiert wurden. Niemand sei eingeschritten.

Der Schulterschluss mit den Männern, die auf den wehrlos am Boden liegenden Kajrat B. und Maxim K. eintraten, setzte sich im Gerichtssaal fort. Die meisten Zeugen machten widersprüchliche und ungenaue Angaben zu Tathergang und Beteiligten. Zwei Männer ließ die Staatsanwaltschaft wegen mutmaßlicher Falschaussagen im Gerichtssaal verhaften, insgesamt sind deshalb mehr als 12 Ermittlungsverfahren anhängig.

Nebenklägerin Weyers ist überzeugt, dass dem tödlichen Angriff ein fremdenfeindliches Motiv zugrunde liegt. Sie wertet die Tat als Mord. „Ein latenter, tief verwurzelter Rassismus“ habe dazu geführt, dass im Verlauf des Diskoabends mehrere andere Auseinandersetzungen unter einheimischen Jugendlichen unblutig beendet wurden, während die Angreifer bei Kajrat B. und Maxim K. – im Wissen um deren Herkunft als Russlanddeutsche – hemmungslos zuschlugen und zutraten. Die Rechtsanwältin verweist auf eine Zeugenaussage, wonach in der Disko verabredet worden sei, die „Russen“ beim Verlassen der Gaststätte anzugreifen. Auch die Polizei trage eine Mitverantwortung für die schwierigen Ausgangsbedingungen des Prozesses. Die Beamten hatten es unter anderem versäumt, am Tatort die Personalien der dort noch herumstehenden Gruppe von rund zwei Dutzend jungen Männern und Frauen aufzunehmen.

Keiner der fünf Angeklagten hat sich im Prozess zu dem tödlichen Steinwurf bekannt. Eingeräumt wurden lediglich Tritte und Faustschläge. Ein fremdenfeindliches Motiv, von dem die Ermittlungsbehörden lange Zeit ausgegangen waren, sieht Staatsanwalt Kay Clement jedoch inzwischen nicht mehr. Er glaubt den Angeklagten. Die hatten erklärt, sie seien von Kajrat B. und Maxim K. um Zigaretten gebeten worden. Das habe sie „genervt“ und „provoziert“ – und deshalb hätten sie zugeschlagen.