: Keine gewöhnliche Nahrung
Die Ausstellung „Deutsche Südamerika-Reisende des 16. Jahrhunderts“ in der Stabi diskutiert Menschenfresser-Klischees
von Hajo Schiff
Die ersten europäischen Bücher über Südamerika stammen nicht von Spaniern oder Portugiesen, sondern von zwei Deutschen: Ulrich Schmiedel aus Straubing ging als Söldner der Spanier 1534 in die La-Plata-Region und nahm an allen wichtigen Ereignissen der argentinischen und paraguayischen Frühzeit teil. Nach erlebnis- und entbehrungsreichen 20 Jahren kehrte er nach Bayern zurück und schrieb einen ausführlichen Bericht, der in Abschriften kursierte, bis er 1567 in Frankfurt gedruckt wurde.
Hans Staden aus Homberg an der Efze wiederum wurde 1554 bei Sao Vicente von Tupinamba-Indianern gefangen genommen, konnte nach neuneinhalb Monaten dem angeblich menschenfressenden Stamm entkommen und veröffentlichte 1557 in Marburg den ersten Reisebericht über Brasilen.
Über Jahrhunderte prägten diese Texte und die ihnen beigegebenen Illustrationen das Bild des „wilden“ Südamerika, heute noch werden sie immer wieder gedruckt. Eine von der Universitätsbibliothek Kiel zusammengestellte Ausstellung in der Hamburger Staatsbibliothek zeigt nun die seltenen Erstausgaben, weitere frühe Drucke zum Thema sowie alte Landkarten, vieles davon illustriert mit Menschen grillenden Nackten.
Eine Bibliotheksausstellung legt erwartungsgemäß mehr Gewicht auf die Geschichte der Bücher als auf den Inhalt der Berichte. Dennoch drängt sich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der „erschröcklichen und wahrhafftigen Historien“ auf. Ist Hans Staden nur durch die List, sich selbst zum Schamanen zu erklären, dem Kochtopf entronnen, oder haben die alten Europäer einige etwas ungewöhnliche Rituale völlig falsch verstanden?
Einig sind sich alle Historiker und Ethnologen darin, dass die damaligen Indianer keineswegs andere Menschen als gewöhnliche Nahrung betrachteten. Die Anthropophagie war auf jeden Fall rituell. Aber sie gab es mit größter Wahrscheinlichkeit – schon aufgrund zahlreicher übermittelter Details, die nur sich auszudenken ein Europäer gar nicht in der Lage gewesen wäre, selbst wenn er es ideologisch gewollt hätte. Nur, worum ging es? Und in welchem Umfang? Vielleicht war das Ganze ein seltenes Fest, bei dem die Menschen sich zum Machtgewinn rituell zu wilden Jaguaren verwandelten, vielleicht aber auch nur Knochensäuberung der Verstorbenen bei Zweitbestattungen.
Jedenfalls wurden die bei Staden erstmals gezeigten Holzschnitte später zu Kupfern verschönt und bis weit ins 18. Jahrhundert immer wieder verwendet. Nur wenige einst beobachtete Szenen wurden dabei zu allgemeinen Topoi für ganz Südamerika, zu wiederkehrenden Bildzeichen der zwar antikisch schön und nackt dargestellten, aber leider äußerst sündhaften Wilden, die zu unterjochen Europa ein allerchristlichstes Recht zu haben schien.
Von der seltenen römischen Druckfassung der Columbus-Briefe aus der Hamburger Commerzbibliothek bis zu spanischen Comics, von Briefen des Cortez an Kaiser Karl V. bis zu den Anklagen der spanischen Greueltaten durch den Mönch Bartolomé de Las Casas und deren antispanische Interpretation durch die Reformation belegen die Texte und Bilder dieser Ausstellung, wie kompliziert es war und ist, die Begegnung der Kulturen zu verstehen und ihre drastischen Folgen zu begreifen.
Deutsche Südamerika-Reisende des 16. Jahrhunderts – Hans Staden und Ulrich Schmiedel, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg; Mo–Fr 9–21, Sa 10–13 Uhr; bis 12. Juni. Begleitbuch: Franz Obermeier: Brasilien in Illustrationen des 16. Jahrhunderts, Frankfurt 2000, 25 Euro