Keine Zwangsversteigerung des Tacheles: Alles außer Klartext
Die Versteigerung wird kurzfristig abgesagt, offenbar, weil einige Nutzer gegen Geld ausziehen wollten. Doch der Deal platzt - und wer ihn eingefädelt hat, ist unklar
Es ist 5 vor 10, als Martin Reiter die Info gesteckt bekommt. "Ich habs gewusst", sagt der Tacheles-Sprecher mit den langen Locken und der roten Windjacke. Reiter wendet sich zu den 40 verkleideten, protestierenden Tacheles-Künstlern neben dem Eingangsportal des Amtsgerichts Mitte: "Die Zwangsversteigerung ist abgesagt." Ratlose Gesichter. "Das kann nur heißen, dass ein Hinterzimmerdeal geschmiedet wurde", ruft Reiter. "Dem werden wir uns nicht beugen."
Seit 2007 steht das Kunsthaus Tacheles an der Oranienburger Straße in Mitte unter Zwangsverwaltung der HSH Nordbank, Grund war die Insolvenz einer Immobilienfirma. Am Montag sollte die 1990 besetzte und später legalisierte Ruine via Zwangsversteigerung einen neuen Eigentümer finden. Auf 35 Millionen Euro hatte das Gericht das 25.000 Quadratmeter große Gelände taxiert. Doch zu der Auktion kommt es nicht.
Um kurz nach zehn Uhr tritt Gerichtspräsident Ulrich Beuerle auf die Treppe vor dem Gericht. Um 9.26 Uhr habe ihn ein Fax der HSH erreicht mit der Bitte, die Versteigerung aufzuheben. "Dem kommen wir nach." Genaueres habe die Bank nicht mitgeteilt. "Das ist nicht unüblich, auch so kurzfristig", sagt Beuerle. Das Verfahren laufe weiter, eine neuer Auktionstermin sei denkbar, auch eine außergerichtliche Einigung.
Von der HSH heißt es später, man habe die Gespräche mit den Bietinteressenten nicht rechtzeitig abschließen können. "Wir rechnen aber mit einer baldigen Fortsetzung der Versteigerung", so Sprecherin Gesine Dähn. Eine Vorab-Einigung mit einem Bieter existiere nicht. Es gebe weiter "mehrere Interessenten".
Einer könnte der Spreedreieck-Planer Harm Müller-Spreer sein. Laut einem Mitinteressenten hat der Hamburger Investor bereits Vorverträge mit der HSH geschlossen. Dies dementiert Müller-Spreer am Montag. "Mit den derzeitigen Besetzern gibt es auch kein Interesse von meiner Seite." Ohne diese aber sei das Areal "hoch interessant".
Auf dem Tacheles-Gelände hat sich unterdessen der zweite Schauplatz des Tages eröffnet. Ein Bagger rollt am frühen Morgen an, schiebt auf dem Hinterhof eine Bretterbude und einen alten Bus, genutzt als Bar, weg. Denn still und heimlich hatte sich am Sonntag die Fraktion um die Gastronomie-Betreiber im Tacheles mit einer Charlottenburger Anwaltskanzlei auf einen Auszug geeinigt, nach eigenen Angaben für eine Abfindung in Höhe von einer Million Euro - dies ist der wahrscheinlichste Grund für die vorläufige Auktionsabsage.
Für das Geld sollten das Café Zapata, das Studio 54, das Biotop, das Kino und die Nutzer der Freifläche hinterm Haus gehen. "Wir haben nach der Entscheidung geweint", berichtet Zapata-Chef Ludwig Eben, graue Haare, Hände in den Jeanstaschen. Die letzten Jahre, der ständige Streit mit den anderen Nutzern des Hauses und Behörden sei "Wahnsinn" gewesen. "Da ist hier keiner mehr zum Arbeiten gekommen."
Am Montag aber platzt der Deal: Das Geld landet bis dahin nicht auf dem Notarkonto, die Tacheles-Aussteiger machen einen Rückzieher, der Bagger wird abgezogen. "Dilettant", schimpft Eben über den Anwalt, der im beigen Mantel über den Hinterhof schleicht und sich zu den Vorgängen nicht äußern will. Auch nicht dazu, wen er vertritt.
Der Auszug sei damit geplatzt, sagt Zapata-Mann Eben. "Unser Angebot, für 2,84 Millionen Euro das Haus selbst zu kaufen, steht weiter." Die HSH lehnt das freilich ab. Alle Interessenten hätten nur Interesse am Gesamtgelände, so Sprecherin Dähn.
Auf dem Hinterhof sitzt Hüseyin Arda mit einem Kaffee auf einer Holzbank. Seit 1992 arbeitet der 41-Jährige in seiner Metallwerkstatt, ist einer der 80 Tacheles-Künstler. Auch Arda hatte von der Kanzlei Geld für eine freiwillige Räumung geboten bekommen - 100.000 Euro - und abgelehnt. "Ich bin nicht zu verkaufen." Das jahrelange Hickhack ums Tacheles, vor allem aber der heutige Tag komme ihm "wie eine große Show" vor. Dabei hätten er selbst und mindestens ein Dutzend weiterer Künstler immer noch Mietverträge. "Dagegen zu prozessieren, dürfte eine Weile dauern", sagt Arda. "Unter diesen Bedingung wird das Tacheles noch lange keinen neuen Eigentümer sehen."
Martin Reiter, der die versuchte Räumung aus dem ersten Stock verfolgt hat, hofft auf den Senat: "Die Stadt muss jetzt verdammt noch mal aktiv werden, das Tacheles kaufen und in eine öffentlich-rechtliche Stiftung überführen."
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