piwik no script img

Keine Nachtigall

Ein Gespräch mit Jacques Roubaud und Michèle Métail über OuLiPo und die geheimen und die offenen Regeln der Literaturproduktion  ■ Von Katharina Döbler

Katharina Döbler: Wie sind Sie Mitglied von OuLiPo geworden?

Michèle Métail: Ich habe die Ursonate von Kurt Schwitters gesucht nd habe sie nicht gefunden, und ein Freund hat mir gesagt, Francois Le Lionnais muß sie haben. Ich habe Francois Le Lionnais angerufen, und er hat gefragt, wer sind Sie, was machen Sie, und ich hab' gesagt, ich schreibe Poesie, aber keine klassische Posie, sondern ganz moderne Poesie. Und er war sehr neugierig und hat mich eingeladen, ich habe meinen Text mitgebracht. Er hat das Raymond Queneau gegeben, und Queneau hat mir gesagt, das ist eine oulipische Arbeit. Sie haben mich eingeladen, und dann bin ich Mitglied geworden. Ich glaube, das war 1974.

Jacques Roubaud: Ich hatte Gedichte geschrieben, und ich wollte sie veröffentlichen, aber da es ein bißchen mathematisch aufgemacht war, habe ich jemanden gesucht, dem ich es schicken könnte und habe sofort an Raymond Queneau gedacht. Ich habe also mein Manuskript an Raymond Queneau geschickt, Raymond Queneau hat mich in sein Büro bestellt, wir haben geredet, von Mathematik, dann von Poesie, er hat mein Buch veröffentlichen lassen, und danach hat er gesagt: „Wissen Sie, wir treffen uns immer mit ein paar Freunden, und wir machen Sachen, das was Sie machen, ist ein bißchen ähnlich wie das, was wir machen“, und das war OuLiPo. Ich bin dann gekommen, ich kannte OuLiPo nicht, ich bin dann zu dem Treffen gegangen, und dann war ich Mitglied von OuLiPo.

Das war wann?

Jacques Roubaud: 1966.

In einem Artikel über OuLiPo, ich glaube von Ihnen, heißt es: die Inspiration ist beherrschbar (L'inspiration est domesticable). Was soll das heißen?

(Lautes Gelächter)

Jacques Roubaud: Das heißt... das heißt, das heißt... Tatsächlich heißt das, daß ich nicht weiß, was das heißt, Inspiration. Und deswegen ziehe ich vor, zu denken, es ist die Möglichkeit, etwas zu schreiben, wenn die „Contrainte“ festgelegt ist.

Und ohne Contrainte?

Jacques Roubaud: Ohne Contrainte schaffe ich es nicht.

Michèle Métail: Es gibt da einen Satz von Queneau...

Jacques Roubaud: Über die Inspiration?

Es gibt eine Version, die gängige Version von Inspiration, und das ist: Das ist mir eingefallen in der Nacht, während ich die Nachtigall singen hörte. Voilà. Und da ich nachts schlafe und keine Nachtigallen höre, weiß ich nicht, was Inspiration ist.

Normalerweise — in Anführungszeichen — fängt ein Autor nicht mit den Regeln an...

Michèle Métail: Das gibt's nicht... Die Autoren sagen nicht unbedingt, daß Regeln da waren. In vielen Fällen geben es die Autoren nicht zu.

Jacques Roubaud: Es gibt erstens den Fall, da gibt es Regeln, und sie sagen es nicht; und im zweiten, häufigeren Fall gibt es Regeln, und sie wissen es nicht. (Gelächter) Wenn man schreibt und glaubt, man täte es ohne Regeln, schreibt man in Wirklichkeit mit allen Regeln der Vergangenheit, an die man absolut nicht gedacht hat: was man in der Schule gelernt hat, was man in der Zeitung liest, im Radio und im Fernsehen aufschnappt. All das bestimmt völlig, was man sagt. Wenn man glaubt, frei zu sprechen, herrschen die allerbanalsten Regeln aus der Vergangenheit.

Es gibt formale Vorgaben, wie Romane geschrieben werden, wie Stücke geschrieben werden und so weiter, die nicht (mehr) als Regeln im Sinne von Contraintes existieren, sondern als, sagen wir, Traditionen. Ist denn die oulipische Methode eine Möglichkeit, diesen Traditionen zu entkommen?

Michèle Métail: Ja!

Jacques Roubaud: Doch, ja!

Bei OuLiPo sind die Regeln, die angewendet werden, sehr präzise. Regeln, die nicht ganz so formal sind, wie zum Beispiel die Art, wie im 19.Jahrhundert Theaterstücke geschrieben wurden, könnte man bei OuLiPo verwenden, indem man sehr, sehr klar sagt, wie die Stücke hergestellt wurden; und von da ausgehend arbeiten wir: Regeln sehr explizit zu machen, die nicht ganz explizit sind. Das ist eine Weise, damit umzugehen.

Fortsetzung nächste Seite

Wie haben Sie an Ihren Romanen von der „Schönen Hortense“ gearbeitet?

Jacques Roubaud: Ich habe eine Form, eine Regel genommen, die mit der Zahl Sechs zu tun hat, nach einer Methode, wie Raymond Queneau die Permutationen über die Zahl Sechs benutzt hat. Das hat mir die Architektur des Romans vorgegeben. Es ist eine sehr strenge mathematische Contrainte.

Michèle Métail: Aber es läßt gleichzeitig sehr viel Platz. Sehr viel Platz, wie die Regel in dem Roman von Georges Perec „Das Leben. Gebrauchsanweisung“ auch sehr streng ist, aber viel Spielraum läßt. So eine Vorgabe engt die Freiheit oder die Persönlichkeit des Schriftstellers überhaupt nicht ein; jemand anderer, der die selben Regeln anwenden will, wird ganz andere Sachen daraus machen, auch wenn die Struktur gleich ist, weil jeder zwangsläufig seine Persönlichkeit ins Spiel bringt.

Regeln können also die Inspiration erleichtern? Die beherrschbare Inspiration?

Jacques Roubaud: Wenn ich wüßte, was Inspiration ist, würde ich „ja“ sagen.

Und da ich's nicht weiß: vielleicht.

Michèle Métail: Aber es stimuliert, das bestimmt.

Jacques Roubaud: Das gleicht sehr dem Enthusiasmus, wie man ihn in Beziehungen unter Menschen haben kann, das gleicht ungeheuer der Verführung. Die Regel ist eine Art, in der Sprache zu verführen.

Haben Sie denn auch schon ohne Vorgabe von Regeln gearbeitet?

Jacques Roubaud: Never.

Michèle Métail: Es gibt Leute bei OuLiPo, die beide Aspekte haben.

Jacques Roubaud: Wir haben den Unterschied zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren: die sichtbare Regel, die unsichtbare Regel, die enthüllte Regel und die verhüllte Regel; man kann es sagen oder nicht sagen, man kann es zeigen oder nicht zeigen. Das sind die vier Möglichkeiten.

Wie haben Sie denn Ihre ersten Gedichte geschrieben, die Sie dann Queneau zeigten?

Jacques Roubaud: Das Buch war konstruiert wie eine Partie Go, das japanische Spiel. Das war ganz und gar eine richtige Regel.

Es ist ziemlich ungewöhnlich, jedenfalls in Deutschland, daß bei Lesungen so viel gelacht wird. Das gilt schon fast als Sakrileg.

Michèle Métail: Das ist nicht ganz wahr, bei den Lesungen von Gerhard Rühm, der Wiener Gruppe, ist das nicht so.

Vielleicht nehmen sich die Autoren so ernst, die Autoren von heute nehmen sich vielleicht zu ernst.

Nehmen Sie sich ernst als Autoren?

Jacques Roubaud: O là là. (Brüllendes Gelächter)

Wir arbeiten ernsthaft, das ist alles. Das ist nicht dasselbe.

Die meisten Literaten glauben, daß das, was sie produzieren, Kunstwerke sind.

Jacques Roubaud: Ich würde sagen, daß Poesie ein Kunstwerk ist, dessen Material Sprache ist, wie ein paar Schuhe ein Kunstwerk sind aus dem Material Leder.

Kann dann jeder, der es will, mit Regeln arbeiten und schreiben lernen?

Michèle Métail: Zum Beispiel das Sonett. Es gibt ziemlich viele schlechte Sonette. Es gibt sogar Werbung in Alexandrinern, für alle möglichen Geschäfte. Regeln garantieren nicht die Qualität des Produkts.

Jacques Roubaud: Das Leder sagt noch nicht, daß der Schuh schön ist.

Johann Sebastian Bach antwortet auf die Frage, die Sie gestellt haben. Er sagt, so habe ich das „Wohltemperierte Klavier“ geschrieben, wer auch immer diese Regeln nimmt, kann es genauso machen. Das ist das Vorwort zum „Wohltemperierten Klavier“. Gut, er hat es ein bißchen besser gemacht als andere, das ist alles.

Das Herausgehen aus den überlieferten Formen, in der Moderne, ist in der Literatur, in der Musik, in der Malerei als Befreiung empfunden worden.

Jacques Roubaud: Ich bin nicht modern. Erstens. Zweitens, die Idee, sich von allen Regeln zu befreien, ist die Idee einer Tabula rasa, die außer vielleicht in der (bildenden) Kunst keine exzellenten Ergebnisse hervorgebracht hat.

Das muß unbedingt übersetzt werden!

Michèle Métail: Ich schreibe, ich lese, das ist alles, das ist meine Arbeit, und der Rest... Es gibt weder eine metaphysische Tragweite noch sonst etwas.

Es ist mein persönliches Verhältnis zur Sprache, ich teile es mit der Öffentlichkeit, und es kann sein, daß es mal eine Zeit gibt, wo ich das nicht tue. Ich werde mich in keine große Bewegung einschreiben...

Jacques Roubaud: Wir werden nicht die Welt befreien.

(Gelächter)

Michèle Métail: Tut uns leid.

Jacques Roubaud: Ich würde gern, als Bürger und Individuum; aber kein Schriftsteller wird die Welt befreien.

Michèle Métail: Wir wollen den anderen nichts aufzwingen, wir machen es eben so, aber wir hindern die anderen nicht, es auf ihre Weise zu machen. Ich will nicht tyrannisch sein und behaupten, ich sei im Besitz der Wahrheit.

Jacques Roubaud: Wie Queneau sind wir Handwerker.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen