: Keine Mehrheit zum Regieren
BULGARIEN Bei den Parlamentswahlen am Sonntag werden die Konservativen stärkste Kraft, aber zur Regierungsbildung reicht es nicht. Die Opposition vermutet Wahlfälschung
ANTOANETA TZONEWA, WAHLBEOBACHTERIN
AUS SOFIA BARBARA OERTEL
Nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom Sonntag bleibt zunächst unklar, wie die nächste Regierung Bulgariens aussehen wird. Zwar wurde die rechtsliberale Partei Gerb („Bürger für eine demokratische Entwicklung Bulgariens“) des im Februar nach Sozialprotesten zurückgetretenen ehemaligen Premiers Bojko Borissow mit 31,4 Prozent der Stimmen stärkste Partei. Aber für eine Regierungsbildung reicht es nicht, und die Gerb wird nur schwer Koalitionspartner finden. Die oppositionellen Sozialisten (BSP) erreichten 27,4 Prozent, die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) der türkischen Minderheit landete bei 9,2 Prozent (34 Sitze), gefolgt von der nationalistischen Partei Ataka mit 7,6 Prozent. Alle anderen Parteien scheiterten an der Vierprozenthürde. Die Wahlbeteiligung lag bei 53 Prozent.
Regulär hätten die Bulgaren erst im Juli über ein neues Parlament abstimmen sollen. Die Neuwahlen wurden jedoch notwendig, nachdem Borissow und seine Regierung als Reaktion auf Massenproteste gegen überhöhte Strompreise im Februar zurückgetreten waren.
Wie es jetzt politisch in dem ärmsten EU-Land weitergeht, in dem Korruption nach wie vor zu den größten Problemen zählt, ist derzeit völlig unklar. Der Wahlsieger Gerb verzichtete am Sonntagabend auf eine Stellungnahme. Diese wolle man erst abgeben, wenn die offiziellen Ergebnisse feststünden, hieß es. Tzwetan Tzwetanow deutete die Möglichkeit einer Minderheitsregierung an. Aber auch eine Regierung unabhängiger Experten unter angemessener Beteiligung von Ministern der Gerb könne man sich vorstellen. Dieses Szenario forderten auch die türkische DPS sowie Sozialistenchef Sergej Stanischew – allerdings unter Ausschluss der Gerb. Ataka-Chef Wolen Siderow wollte sich nicht eindeutig zu einer möglichen Zusammenarbeit mit der Gerb positionieren. Auf jeden Fall werde man niemanden unterstützen, der eine Politik der Kolonialisierung und des Ausverkaufs Bulgariens betreibe, sagte er.
Der Politologe Ognian Mintschew sieht Bulgarien in einer tiefen Krise, nicht nur moralisch, sondern jetzt auch institutionell. „Es besteht jetzt die Gefahr, dass das Parlament auf lange Zeit blockiert sein wird“, sagte er. Was diejenigen davon halten, die am Sonntag in Sofia ihrem Unmut lautstark Ausdruck verliehen, ist eindeutig: Sie kündigten weitere Proteste an.
Zu Protesten in Sofia kam es auch wieder am Wahlabend vor dem nationalen Kulturpalast, in dem traditionell die ersten Pressekonferenzen der Parteien nach den Wahlen stattfinden. Unter Rufen wie „Mafia, Mafia!“ versuchten Hunderte aufgebrachte Demonstranten, sich Zugang zu dem Gebäude zu verschaffen. Aufgeheizt worden war die Stimmung durch Medienberichte, wonach in einer Druckerei 350.000 zusätzliche Stimmzettel aufgetaucht waren – für die Opposition ein klarer Beweis für Wahlfälschung.
Doch die ominösen Stimmzettel waren nicht die einzige Unregelmäßigkeit. So soll in mehreren Städten der Kauf von Wählerstimmen im großen Maßstab betrieben beziehungsweise Wähler dafür bezahlt worden sein, gar nicht erst zu den Urnen zu gehen. Zudem versagten die Druckerpatronen zahlreicher Kopierer, was die Vervielfältigung der Protokolle der Wahllokale und somit die Auszählung verzögerte. „Das politische System in Bulgarien funktioniert nicht. Diese Wahlen waren weit von europäischen Standards entfernt“, sagte Antoaneta Tzonewa, einheimische Wahlbeobachterin und Mitarbeiterin des Sofioter Instituts für die Entwicklung einer kritischen Öffentlichkeit.
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