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Archiv-Artikel

Keine Lehren aus Weimar

Politiker und Juristen plädieren für eine Grundgesetzänderung, die die Selbstauflösung des Bundestags erlaubt. Dafür spricht viel

FREIBURG taz ■ Am weitesten hat sich bisher Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) vorgewagt. Auf dem Kirchentag plädierte er vergangene Woche für eine Verfassungsänderung, die es dem Bundestag erlaubt, sich selbst aufzulösen und so bei Bedarf vorgezogene Neuwahlen herbeizuführen. Auch Oppositionspolitiker wie Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) sprachen sich dafür aus.

Der Gedanke liegt nahe. Offensichtlich gibt es gelegentlich Situationen, in denen ein breiter Wunsch nach Neuwahlen besteht. Doch das Bundesverfassungsgericht verlangt als Voraussetzung eine Vertrauenskrise zwischen Kanzler und Parlamentsmehrheit. Deshalb muss jetzt eine solche Vertrauenskrise vorgetäuscht oder herbeikonstruiert werden. Das ist für das Ansehen von Grundgesetz und Demokratie eher schädlich. Selbst Exverfassungsrichter Ernst-Gottfried Mahrenholz hat sich jüngst für eine Grundgesetzänderung ausgesprochen. 1983 hat er noch das Urteil mitformuliert, wonach ein Kanzler mit sicherer Parlamentsmehrheit keine Neuwahlen herbeiführen darf.

Kanzler Schröder ließ am Wochenende zwar erklären, er plane keine Verfassungsänderung, eine Begründung blieb er aber schuldig. Vielleicht ist es eine letzte Rücksichtnahme gegenüber den Grünen, die – wie die FDP – vehement gegen eine Grundgesetzänderung sind. Grünen-Fraktionschefin Krista Sager sagte, sie halte nichts davon, „das Grundgesetz zu ändern, wie man es jetzt gerade braucht“. Tatsächlich besteht die Gefahr, dass bei einer kurzfristigen Änderung des Grundgesetzes Regeln geschaffen werden, die nicht wirklich durchdacht sind und schon beim übernächsten Anwendungsfall nicht mehr passen.

Allerdings ist das Selbstauflösungsrecht des Parlamentes nichts Ungewöhnliches und in vielen Landesverfassungen, etwa in Bayern und Baden-Württemberg, enthalten. Und die Verhältnisse in diesen Ländern sind kein bisschen instabiler als im Bund. Dass eine arbeitsfähige Mehrheit sich mutwillig vorzeitigen Neuwahlen aussetzt, ist ja auch nicht nahe liegend. Denn normalerweise will ein Regierungschef gestalten und Macht ausüben; auch Abgeordnete haben ihr Mandat in der Regel gerne inne. Ein Hasardspiel à la Schröder dürfte daher im Bund auch nach einer Grundgesetzänderung die Ausnahme bleiben.

Doch was ist mit den „historischen Lehren“, auf die der FDP-Rechtspolitiker Rainer Funke hinwies? Nach seiner Ansicht ist es eine Reaktion auf die Weimarer Zeit, dass der Bundestag kein Selbstauflösungsrecht besitzt. Die Regierung soll stabil sein, ihre Arbeit erledigen und nicht durch ständige Neuwahlen blockiert werden.

Allerdings trägt der Hinweis auf Weimar bei genauerer Prüfung nicht weit. Zwar hat das Parlament damals tatsächlich keine einzige Wahlperiode zu Ende gebracht. Grund dafür war aber nicht ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments – das gab es nämlich gar nicht –, vielmehr wurde der Reichstag regelmäßig vom Reichspräsidenten aufgelöst, und zwar meist bei parlamentarischen Krisen, die auch heute eine Auflösung des Parlaments erlauben würden. Weimar scheiterte, weil die linken und rechten Feinde der Republik immer stärker wurden. Wenn bestimmte Regelungen des Grundgesetzes mit den „Lehren von Weimar“ begründet werden, ist das meist nur ein rhetorischer Kniff. Die Bundesrepublik blieb aus anderen, vor allem ökonomischen Gründen stabil.

Wichtig ist allerdings die Frage, wie eine Neuregelung im Grundgesetz konkret aussehen könnte. In Bayern kann der Landtag seine Auflösung mit einfacher Mehrheit beschließen. Das ist gefährlich, denn so könnte die regierende Partei Neuwahlen gerade dann ansetzen, wenn ihr die Stimmung besonders günstig erscheint. Wolfgang Thierse hat deshalb eine Zweidrittelmehrheit verlangt. Um auch die Interessen kleiner Parteien zu wahren, könnte man sogar eine Mehrheit von 80 oder 90 Prozent vorsehen. Die momentane Situation zeigt, dass auch eine so hohe Hürde übersprungen werden kann, wenn alle Parteien für Neuwahlen sind und niemand über den Tisch gezogen werden soll. CHRISTIAN RATH