: „Kein moralischer Freispruch“
■ Mildes Urteil und harte Standpauke für die Holst-Befreierin Tamar Segal
Erleichtert strahlend suchte Tamar Segal gestern als erstes den Blick ihrer drei Freundinnen im Zuschauerraum, die sie während des Prozesses begleitet hatten: Die Befreierin des dreifachen Frauenmörders Thomas Holst konnte das Strafjustizgebäude nach dem gestrigen Urteil als freie Frau verlassen. Das Gericht verurteilte sie wegen Gefangenenbefreiung und Vollstreckungsvereitelung zu zwei Jahren Haft. Sieben Monate hat die 40jährige, aus Israel stammende Therapeutin bereits in U-Haft gesessen, den Rest setzte das Gericht zur Bewährung aus. Statt ihres gesamten Barvermögens – rund 157.000 Mark – wird nur ein Drittel des „Fluchtgeldes“ eingezogen.
Langes Gesicht hingegen auf Seiten der Anklage; zum ersten Mal seit Prozeßbeginn war das süffisante Grinsen aus dem Gesicht der Staatsanwältin Claudia Knoll verschwunden. Zwar hat sie mit einem solchen Urteil „gerechnet“. Doch das Gericht war ihrer Auffassung von Tathergang und Motiven nicht gefolgt. Tamar Segal habe „uneigennützig“ gehandelt, so der Vorsitzende Richter Hans Runge. Die Staatsanwaltschaft hatte indes bis zum Schluß darauf beharrt, daß die Angeklagte aus „niederen Beweggründen“ handelte; danach soll die lesbische Therapeutin eine Liebesbeziehung zu ihrem persönlichkeitsgestörten Patienten gehabt und ihn deshalb befreit haben. Über eine Revision will Knoll „ein paar Tage“ nachdenken.
Tamar Segal hingegen wird keine Rechtsmittel einlegen: „Ich nehme das Urteil an“, sagte sie und bedankte sich beim Richter. In der Urteilsbegründung mußte die Psychologin sich allerdings eine wortreiche Standpauke gefallen lassen. Die Entscheidung des Gerichts sei „kein moralischer Freispruch“. Segal solle sich in Zukunft mit „diffamierenden“ Äußerungen zurückhalten, sonst drohe ihr die Aufhebung der Bewährung. Denn die Art und Weise, wie sie Personen aus dem Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll „herabgewürdigt und beleidigt“ hätte, seien weit „über das zur Verteidigung angemessene Maß“ hinausgegangen. „Das Urteil hätte auch ganz anders ausgehen können“, so Runge.
Das Gericht hätte strafmildernde und strafverschärfende Aspekte sorgfältig abgewogen. So sei die Flucht nicht Segals Idee gewesen, sondern die ihres Patienten Holst. Segals Kritik an der Klinikleitung hätte sich zu einer „Anti-Haltung gesteigert“, die Holst für seine Interessen genutzt hätte. Sie habe die Distanz zu ihrem Patienten und seinen grausamen Taten verloren. Trotzdem sei die Psychologin kein hilfloses Opfer, sondern habe bewußt das Risiko für die Allgemeinheit in Kauf genommen.
Als strafmildernd bewertete das Gericht, daß Segal ein umfassendes Geständnis ablegte und weder vorbestraft ist, noch aus egoistischen Motiven handelte. Die Therapeutin hatte die Befreiung stets als „politische Tat“ bezeichnet, mit der sie auf die „katastrophalen“ Zustände in der forensischen Psychiatrie aufmerksam machen wollte. Für die Mischung aus fanatischem Idealismus und fataler Selbstüberschätzung mußte Tamar Segal auch abseits der Gefängnisstrafe teuer bezahlen: Ihre langjährige Lebensgefährtin verließ sie, ihr Vater mußte aufgrund ihrer Haft ins Krankenhaus und starb, ihren Beruf wird sie in Deutschland nie wieder ausüben dürfen. Silke Mertins
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