: Kein fester Boden mehr
Ein Vater und sein Sohn aus Berlin, Prenzlauer Berg: Robert Thalheim überzeugt mit seinem Regiedebüt „Netto“, weil er weniger auf gesellschaftskritischen Realismus setzt als vielmehr eine große Nähe zu seinen Figuren herstellt
Ein vietnamesischer Imbiss. Marcel tritt ein, ein schüchternes Hallo auf den Lippen. „Viel los da draußen“, sagt er. Hier drinnen ist es leer und still. Sein Haar ist zu lang, die Augenringe sind zu dick; in seinem Blick liegt die Unsicherheit desjenigen, der auf der Suche nach ein wenig Unterhaltung ist, dem aber schon lange niemand mehr zuhört.
Marcels Welt ist klein, zusammengeschrumpft auf den Imbiss und seine schäbige Wohnung, seit er seinen Job verloren hat und seine Frau mit dem Kind ihn verlassen hat. Was er zu sagen hat, dauert nicht länger als ein Bier. Von früher redet er, von der Familie, vom Zusammenhalt vor der Wiedervereinigung. Und von der Zukunft: Personenschutz, da ist er sicher, ist die Marktlücke von morgen, die will er nutzen. Doch erst mal trinkt Marcel sein Bier, ein Clausthaler, denn er hat Zuflucht gesucht im Alkohol, und trocken ist er noch nicht lange und nicht wirklich.
„Netto“ heißt Robert Thalheims Debütfilm, und dieser Titel erinnert an die Supermarktkette, deren grelles Gelb nach der Wende die Errungenschaften des Kapitalismus in den grauen Osten brachte. „Netto“ spielt in Berlin, Prenzlauer Berg, doch seine Hauptfigur Marcel (Milan Peschel) ist nicht nur Wendeverlierer, sondern Loser auf ganzer Linie und unsympathisch dazu. Seine Rastlosigkeit und seine diffusen Pläne, als Personenschützer neue Arbeit zu finden, täuschen nicht über die Stagnation seines Lebens hinweg. Bis eines Tages sein Sohn vor der Tür steht.
Was sich dann entwickelt in Thalheims Film, mutet zunächst wie eine klassische Vater-Sohn-Geschichte an: Marcels Sohn Sebastian (Sebastian Butz) ist 15 und hat keine Lust mehr auf seine Mutter und deren neuen Freund. Er haut also ab von zu Hause und zieht zu Marcel, den er zuletzt vor zwei Jahren gesehen hat und der von seiner neuen Vaterrolle so überfordert scheint wie von seinem Leben.
Auch wenn sie zunächst wenig miteinander anfangen können, entwickelt sich bald eine enge Beziehung zwischen Vater und Sohn, nachdem sie ihre Rollen erst einmal abgelegt haben. Es ist Marcel, der von seinem Sohn lernt, wie man den Haushalt führt, eine Bewerbung schreibt und professionell auftritt. Doch auch Sebastian, der in der Schule nur Einsen schreibt und wenig praktische Anleitungen braucht, entdeckt, dass sein Vater mit seinen Träumen und Fantastereien ihm etwas zu geben hat.
Thalheims Film lebt von den Figuren und von der großen Natürlichkeit, mit der er sie einfängt. Die Hauptrollen sind großartig besetzt, die Schauspieler agieren mit beeindruckender Selbstverständlichkeit und Vertrautheit. So kurz manche Szenen sind, so groß ist ihre Dichte und Intimität. Manchmal wackelt das Bild, als fehle der Kamera wie den Figuren selbst der feste Boden unter den Füßen; die neutrale, feste Ebene, von der aus das Geschehen beobachtet wird, scheint aufgelöst.
Auch der Umgang der Figuren untereinander und ihre Dialoge sind wenig geschliffen, fast improvisiert. Sebastians kurze, vom Stimmbruch verzerrten Sätze und Marcels Lamentieren im breiten Berlinerisch wirken wie im Alltag eingefangen. Wenn beide ausdrücken könnten, was sie meinen, hätten sie vermutlich weniger Probleme, doch wären sie dann nicht mehr die Menschen, die sie sind: rau und unzugänglich an der Oberfläche, darunter aber sehr warmherzig. Denn das ist das Großartige an diesem ungekünstelten Stil: Aus dem Film spricht weniger gesellschaftskritischer Realismus als eine Liebe zu den Figuren.
So spielt „Netto“ zwar im Milieu eines Wendeverlierers, ein Sozialdrama ist der Film aber nicht. Dem wirkt nicht zuletzt die Filmmusik entgegen. Marcel ist großer Fan des DDR-Country-Sängers Peter Tschernig, dessen Lieder den Film durchziehen und der am Ende mit knarzender Stimme singt: „Mein bester Freund ist und bleibt mein Vater.“ SEBASTIAN FRENZEL
„Netto“. Regie: Robert Thalheim. Mit Milan Peschel, Sebastian Butz u. a. Deutschland 2004, 90 Min.