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Kein Zeuge der Anklage

■ Polizeiopfer Oliver Neß angeblich „Aufwiegler“ / Hamburger Polizisten sollen mit Haider-Leibwächtern Übergriff begossen haben Von Silke Mertins

Als Polizeiopfer Oliver Neß gestern noch einmal seine Verletzungen und irreparablen Schäden aufzählte und seine Mutter, die Fassung verlierend, den Gerichtssaal verließ, blickten ihr auch die Angehörigen des angeklagten „Fußverdrehers“ betroffen hinterher. Plastisch und detailliert schilderte der 28jährige ARD-Journalist dem Gericht, was sich nach seiner Erinnerung am 30. Mai 1994 während einer Demo gegen den österreichischen Rechtsaußen Jörg Haider zugetragen hatte; wie er mit den Worten: „Heute paßt du auf!“ gewarnt und kurze Zeit später von Polizisten in Zivil und Uniform zusammengeschlagen und schwer verletzt wurde.

Daß nur zwei Beamte sich nun vor Gericht wegen Körperverletzung im Amt und Freiheitsberaubung verantworten müssen, lastet der für seine kritischen TV-Berichte bekannte Neß der Staatsanwaltschaft an. „Das war keine Festnahmesituation!“ fuhr Neß Staatsanwalt Martin Slotty an. „Das war ein Überfall und eine Mißhandlung.“

„Ich habe Festnahmeversuch nur in Anführungsstrichen gemeint“, rechtfertigte sich Slotty. Doch der offene Konflikt zwischen dem Zeugen der Anklage und der Anklage selbst – Neß hatte Slotty vor dem Untersuchungsausschuß als „Lügner“ bezeichnet – brach auch gestern wieder aus. Staatsanwalt Slotty unterstellte Neß eine Absprache mit einem der Hauptzeugen, Oliver Sch., der den Angriff aus nächster Nähe beobachtete. Teilweise deckt sich Neß' Erinnerung nicht mit den Videobändern, jedoch mit den Ausagen von Oliver Sch. Seine Erinnerung sei zwar ganz klar, so Neß, doch auch ihn irritiere, daß er sie teilweise nicht auf den Video-bändern wiederfinde.

„Zehn bis zwölf Beamte“, die sich an ihm zu schaffen machten, die Warnungen und das Verschwinden von Beweismaterial – all das, so Neß, „kann kein Zufall sein“. Bestätigt sieht er sich durch österreichische Journalisten. Von einem Informanten unter den Haider-Leibwächtern hätten sie erfahren, daß die Bodyguards mit der Polizeieinsatzleitung nach der Demo in einem Kellerrestaurant waren. Diesem „linken Journalisten“ hätte schon längst „eine Abreibung gehört“, er sei schon lange „fällig“ gewesen, sei dort gesagt worden.

„Wäre es denn überhaupt eine Nachricht gewesen, wenn es nicht ein Komplott, sondern nur eine mißlungene Festnahme gewesen wäre?“, wollte Verteidiger Benoit den Racheakt als journalistische Inszenierung darstellen. Er habe sich zu keinem Zeitpunkt gewehrt, noch irgendeinen Anlaß für eine Festnahme gegeben, betonte Neß immer wieder.

Zuvor hatte der Zeuge und Polizist Ralf M. (29), den die Staatsanwaltschaft erstaunlicherweise nicht angeklagt hat, ausgesagt, Neß sei ihm als „Aufwiegler“ aufgefallen, der die Menge „aufputschte“. Deshalb habe er ihn mit einem Würgegriff zu Boden gebracht. Wie genau die Gefahr aussah, die von dem „offensichtlichen Aggressor“ ausging, konnte Ralf M. nicht erinnern. Auch bei zahlreichen anderen entscheidenden Fragen, zum Beispiel wie die eklatanten Widersprüche in den Polizeiberichten zustande kamen, berief sich M. auf „Alzheimer light, wie meine Frau immer sagt“. Warum er Neß denn nicht losließ, als der längst wehrlos am Boden lag, und damit – selbst wenn Neß sich tatsächlich gewehrt hätte – nach dem Polizeirecht keine Veranlassung zum Festhalten mehr bestand? „Ich hatte mich dazu entschlossen, und dann habe ich das so durchgezogen.“

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