: Kein Vorurteil unter anderen
ANTISEMITISMUS Der Politologe Samuel Salzborn verknüpft in „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne“ wissenschaftliche Theorie und Empirie
VON SEBASTIAN VOIGT
Die Wellen schlagen hoch, wenn es um Antisemitismus und Israel geht. Erst letzte Woche war dies bei einer Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde in Berlin, die im Eklat endete, zu sehen. Die Veranstaltung war ein Ergebnis der neuerlichen Kontroverse um die Positionen des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Norman Finkelstein.
Finkelsteins im Februar geplante Auftritte in Deutschland wurden von den Veranstaltern in Berlin und München kurzfristig abgesagt und eine heftige Debatte begann. Der Autor des Buches „Die Holocaust-Industrie“ beklagt die Instrumentalisierung der Schoah durch eine „jüdische Lobby“, vergleicht Israel mit Nazi-Deutschland und assoziiert die islamistische Terrorgruppe Hisbollah mit dem antifaschistischen Widerstand. Warum aber ist israelische Politik so häufig im Fokus, während beispielsweise die Verbrechen von Darfur eher auf marginales Interesse stoßen? Woher rührt das Bedürfnis, gerade Israel immer wieder mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen? Die nun im Campus Verlag veröffentlichte Habilitationsschrift des in Gießen lehrenden Politikwissenschaftlers Samuel Salzborn ist für jene, die sich diese Fragen stellen, hilfreich.
Der Autor beansprucht, eine Lücke zu füllen. Er beklagt, dass keine akademische Studie existiere, die die abstrakten Theorien über Antisemitismus mit empirischen Erkenntnissen aus Umfragen, Interviews oder sozialwissenschaftlichen Studien verbinde. Bestehende Studien gäbe es meist nur im Kontext allgemeiner Untersuchungen von Diskriminierung und „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer). Diese Studien seien nicht ausreichend theoriegeleitet, so werde der Antisemitismus zu einem Vorurteil unter anderen.
Kernproblem der Moderne
Salzborn hingegen versteht den Antisemitismus als „negative Leitidee der Moderne“ und geht mit der Kritischen Theorie davon aus, dass die moderne Form der Judenfeindschaft integral zur bürgerlichen Gesellschaft gehört, deren Produkt und zugleich ihre Negation ist.
Die hochkomplexen Mechanismen der modernen Gesellschaft seien schwer nachvollziehbar. Die in der modernen Gesellschaft entstehenden Krisen würden deshalb nicht aus den Strukturen erklärt, sondern individuell Verantwortliche für die Verwerfungen ausfindig gemacht, und das treffe in der Regel die Juden. Weil die moderne Gesellschaft also aus sich selbst heraus den Antisemitismus produziere, sei er eines der Kernprobleme moderner Vergesellschaftung und kein psychischer Defekt von Individuen.
Werden im ersten Teil von Salzborns Buch grundlegende sozialwissenschaftliche, gesellschaftskritische und psychoanalytische Ansätze über den Antisemitismus von Sigmund Freud über Moishe Postone bis hin zu Klaus Holz vorgestellt, werden im zweiten Teil die methodischen Grundlagen einer empirischen Überprüfung unterzogen. Am Beispiel von Jürgen Möllemann und Martin Walser erläutert Salzborn die charakteristischen Elemente des sekundären Antisemitismus: Die Juden würden für die Folgen der Schoah verantwortlich gemacht und störten das Bedürfnis nach nationaler Identität, da ihre bloße Existenz an die Verbrechen der Deutschen gemahne. Zur Selbstentlastung würde das Handeln von Juden mit dem der Nazis verglichen. Eine große jüdische Macht werde imaginiert, die bewusst die Schoah nutze, um daraus Kapital zu schlagen. Der jüdische Staat Israel fungiere immer häufiger als „Kollektivjude“.
Die Welt in Schwarzweiß
Wie verbreitet dieses Ressentiment ist, zeigt Salzborn anhand sozialwissenschaftlicher Studien. Zudem führte er selbst sieben qualitative Interviews mit im ganzen Bundesgebiet zufällig ausgewählten Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Die Auswertung der Interviews bestätigten die Erkenntnisse der Antisemitismustheorien.
In einem abschließenden Kapitel erläutert Salzborn, dass der Kern des Antisemitismus ein psychologisch zu begreifendes Phänomen, ein unbewältigter Triebkonflikt sei, in dem die Juden als Projektionsfläche für Aggressionen dienten. Dies führe zu einer manichäischen Weltsicht, die jede Realitätsprüfung vermeide. Interessant wäre es gewesen, auch Theorien des Antisemitismus zu behandeln, die aus der Zeit vor dem NS stammen. Versuche von Theoretikern wie Constantin Brunner oder Julius Goldstein, den Antisemitismus als gesellschaftliches Phänomen zu verstehen, werden von Salzborn nicht behandelt.
Diese wiederum sind die Voraussetzung für die im Buch diskutierten Theorien. So hätte auch die historische Genese der Antisemitismustheorien erfasst werden können. Salzborns Studie ist dennoch allen zu empfehlen, die sich mit Antisemitismustheorien auseinandersetzen wollen, nicht nur im akademischen Bereich.
■ Samuel Salzborn: „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne“. Campus, Frankfurt a. M. 2010, 379 S., 29,90 Euro