: Kein Tokio ohne Polaroid
■ »Der Frühling kommt wie ein Löwe« von Hitoshi Yazaki im fsk
Das Mädchen Eis trägt eine Eisbox über der Schulter wie andere ihr Handtäschchen. Sie kaut Gefrorenes: Man gewöhnt sich im Lauf des Films an das schaurig leise Krachen und Mahlen. Sonnenbrille, Hut und eine Polaroid vervollständigen die Ausrüstung dieser Kunstfigur der Post-Coca-Cola- Zeit. Mit ihrem Konterfei wirbt sie Kunden in einer Telefonzelle. Hinterläßt sie nicht ihr Sofortbild an den Wänden der Stadt, in Einkaufspassagen, an Zettelwänden oder auf den Wellen des Flusses, dann malt sie sich und ihren Freund aus dem selbsterfundenen Märchen, einen Hasen mit Sonnenbrille, mit bunten Wasserfarben.
Die Sonnenbrille verpaßt sie auch ihrem Geliebten, einem jungen Mann ohne Gedächtnis. Für Eis gleicht er einem leeren Blatt, das sie mit ihrer Vorstellung beschreiben kann. Vor seinen Augen zersplittern die Spiegel, bevor er sich im eigenen Gesicht wiederfinden kann. Doch je mehr durch Gesten, Bewegungen und Erschütterungen ein Echo an sein früheres Ich in ihm ausgelöst wird, desto mehr fürchtet das Mädchen, ihn zu verlieren. Mit ihrer Oberflächlichkeit tarnt sie Angst und schlechtes Gewissen, denn sie weiß, daß der Junge ohne Erinnerung ihr Bruder ist.
Beide leben in einer Abbruchwohnung, in der ihnen nichts gehört außer dem Kühlschrank. Eis geht ein bißchen auf den Strich; ihr Bruder hilft bei den Abbrucharbeiten. Flüchtige Bekanntschaften scheinen angemessen in einer Stadt, die aus Brachen, Schienensträngen, Baulücken und Baustellen besteht. An diesem Ort ohne Ruhe und Festigkeit, der der Erinnerung keine wiedererkennbaren Bilder liefert, bleibt jede Lebensform eine vorläufige Improvisation; vorläufig wie die Liebe der Geschwister.
Hitoshi Yazakis Film Der Frühling kommt wie ein Löwe, 1990 auf 16 mm realisiert, reiht sich ein in die Skizzen jugendlicher Identitätsprobleme, die das junge japanische Kino, wie es auch das Arsenal kürzlich in einer Reihe vorstellte, zu seinem Thema gemacht hat. Auch Yazaki stammt aus der Super-8-Szene der Tokioter Universität. Wieder geht es um die Bestimmung der eigenen Person; wieder läßt der Autor seine Protagonisten ihr Selbst mit der Kamera suchen. Irgendwann wirft das Mädchen Eis ihre Polaroid in den Fluß: Metapher des Erwachsenwerdens inmitten medialer Bilderfluten. Doch die Spirale der Identitätssuche wird bei Yazaki zur schmalen erzählerischen Spur: er kommt über die beiden Liebenden nicht hinaus, andere Personen existieren nur dünn am Rande. Das Drama der Geschwisterliebe, das ohne weiteren sozialen Kontext oder familieninternen Machtclinch nicht so recht seine tragische Dimension entfalten kann, bleibt ein unbefriedigendes und anachronistisches Vehikel, um der Geschichte eine rudimentäre Struktur zu verleihen. Katrin Bettina Müller
Der Frühling kommt wie ein Löwe von Yazaki Hitoshi läuft vom 2.-8. Mai im fsk.
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