: Kein Ort des Erinnerns
GEDENKEN Der Lohseplatz in der Hamburger Hafencity war ein Ort, von dem aus Juden, Sinti und Roma in Vernichtungslager deportiert wurden. Es wird überlegt, aus dem Lohseplatz eine Gedenkstätte zu machen, doch es gibt auch andere Vorhaben
VON ROGER REPPLINGER
Man vermittelt uns das Gefühl, dass in der Hafencity nichts war, bevor die Politik sie entdeckt hat. Mit der Elbphilharmonie, dem Kreuzfahrtterminal, den Magellan-Terrassen, tollen, leer stehenden Bürogebäuden und tollen, schwer verkäuflichen Wohnungen. War aber schon vorher was. Die Hafencity hat eine Geschichte, von der ist allerdings nicht viel übrig, weil es ein Teil der Geschichte ist, für die man in der Hansestadt nicht viel übrig hat.
Marut Perle, 50, Historiker, steht am Lohseplatz. Der Lohseplatz heißt nach Hermann Lohse, einem Baumeister der Cöln-Mindener Eisenbahn, der mal der Hannoversche Bahnhof gehörte. Der Lohse-Platz ist der Vorplatz des Hannoverschen Bahnhofs. Ab 1868 gebaut, 1870 fertig gestellt, 1872 unter dem Namen „Pariser Bahnhof“ eröffnet. Von hier fuhr man Richtung Süden, erst bis Harburg, dann nach Hannover, auch nach Bremen. Als 1906 der Hauptbahnhof eröffnet wurde, wurde der Hannoversche Bahnhof zum Güterbahnhof.
Der Lohseplatz soll mal Teil des Lohseparks werden. Das ist Zukunft. Gegenwart ist die seit Frühjahr 2007 auf dem Lohseplatz stehende Tafel von JC Decaux. Mit einem Foto des Bahnhofs, „aber das ist nicht, wie die Tafel behauptet, von 1940, sondern 40 Jahre älter“, erklärt Perle, und die Sinti und Roma, die von Hamburg aus deportiert wurden, „sind auch nicht von hier deportiert worden, sondern waren im Fruchtschuppen C eingesperrt und sind vom Hafenbahnhof Kai rechts verschleppt worden“. Was die jüdischen Deportierten anbelangt, stimmt, was auf der Tafel steht. Zur Zeit der Deportation sah der Hannoversche Bahnhof nicht mehr aus wie auf dem Foto.
Im Jahr 1955 wurden Gebäude des Bahnhofs, die den Krieg überstanden hatten, gesprengt, später weitere Teile abgerissen. Dort, wo sich das Bahnhofsportal befand, von dem kein Stein mehr übrig ist, steht heute eine leere Lagerhalle der Karl Heinz Dietrich GmbH & Co. Internationale Spedition. Blau, weiß, ein paar Graffiti. Dietrich hat einen Vertrag mit der Stadt bis 2017. Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der HafenCity Hamburg GmbH, geht deshalb davon aus, dass „der zentrale Teil des Lohseparks erst insgesamt nach 2017 entwickelt werden kann“. Die Stadt hat dem Spediteur zugesichert, ein Gleis zu verlegen von der Halle zur Oberhafenbahn, die unter der Pfeilerbahn, auf der die ICE-Züge gen Süden rollen, entlang führt. Jedes Mal, wenn Perle hierher kommt, ist das Dietrich-Gleis ein paar Meter gewachsen.
Um das Deportationsgleis zu finden, muss man Absperrungen und Warnschilder missachten. Dann steht man auf dem Bahnsteig 2, von dem zwischen 1941 und 1945 in 17 Transporten 5.848 Jüdinnen und Juden verschleppt wurden. Nach Łòdź, Minsk, Riga, Auschwitz und Theresienstadt. Am 11. Juli 1942 und am 12. Februar 1943 direkt nach Auschwitz-Birkenau. Das Pflaster ist original, da sind Trittsteine, damit man beim Besteigen des Zugs nicht abrutscht. Die Zeitzeugin Ingrid Wecker erkannte den Bahnsteig wieder, auf dem sie 1941 mit einer Sondergenehmigung stand, um als Helferin der Jüdischen Gemeinde die Deportierten mit Lebensmitteln zu versorgen. Aussagen anderer Zeitzeugen belegen, dass von diesem Bahnsteig auch andere Deportierte in die Züge der Reichsbahn stiegen. Mehr ist aus der Zeit nicht übrig. Jedenfalls nichts, was man sehen und berühren kann.
Ein paar hunderte Meter weiter, auf der Baakenbrücke, ist eine Hinweistafel für die deportierten Sinti und Roma, doch der Fruchtschuppen C im so genannten „Magdeburger Hafen“, in dem die Sinti waren, bevor sie in den Tod geschickt wurden, stand im Rücken der Tafel. Neben dem zwischen 1909 und 1911 von der Hamburger Hafen und Logistik AG errichteten und dem Fruchtkontor gepachteten Fruchtschuppen lag das Gaswerk. Kein guter Ort für die Lagerung von Früchten. Die schmeckten nach dem, was das Gaswerk bei der Verkokung der Kohle in die Luft blies. Da war das Fruchtkontor erfreut, den Schuppen für die großen Sinti-Deportationen weiter verpachten zu können. Im Mai 1940 werden 910 Sinti und Roma, davon 550 aus Hamburg, 200 aus Schleswig-Holstein, 160 aus Bremen, nach Bełźec ins „Generalgouvernement“ deportiert, dem von der Wehrmacht besetzten östlichen Teil Polens. Sechs Kommandos hatten die Sinti und Roma am frühen Morgen des 16. Mai festgenommen. Das Lager Bełźec wurde 1941/42 zum Vernichtungslager ausgebaut. Im März 1943 werden 328 Sinti und Roma aus Hamburg nach Auschwitz verschleppt, im April 1944 findet man noch 26 Kinder und Jugendliche. Auch sie sterben in Auschwitz. Begleitet werden die Transporte im Mai 1940 und März 1943 vom Leiter der „Zigeunerdienststelle“ Hamburgs: Kurt Krause, den man „Zigeuner-Krause“ nennt.
Er wird Ende September 1945 von den Alliierten festgenommen, bis Februar 1946 sitzt er in Neumünster. Ab Mai 1946 arbeitet Polizei-Oberinspektor Krause wieder beim Kriminalamt der Polizei Hamburg. Er ist unter anderem für die Ausstellung von Bescheinigungen zuständig, mit denen Sinti ihre Haft im KZ bestätigt wird. Dann erstatten Sinti und Roma Anzeige gegen ihn. Er wird Mitte Juli 1946 seines Dienstes enthoben. Ein Strafverfahren wird eingeleitet. Im Dezember 1946 wird er zu drei Jahren Haft verurteilt und auf Anordnung der Militärregierung aus dem Polizeidienst entlassen. Im März 1949 ist Krause frei. Im Entnazifizierungsverfahren wird er vom Fachausschuss VIIIb im Frühjahr 1949 in Kategorie V, als – „entlastet“ – eingestuft. Er stirbt am 29. September 1954.
Fast alle der aus Hamburg deportierten Sinti und Roma sterben in Auschwitz in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944, bei der von der SS „Liquidierung des Zigeunerlagers“ genannten Mordaktion. Der Fruchtschuppen C wurde 1949 abgerissen. Lange hieß es, Sinti und Roma seien vor der Deportation im „Fruchtschuppen 10“ gewesen. „Das findet man noch heute in der Literatur“, sagt Perle. Der Irrtum entstand so: Am 11. Mai 1940, fünf Tage vor der Deportation, war bei Kriminalrat August Lyss eine Sitzung von Sozialbehörde und Kriminalpolizei, die in Hamburg, wie überall im „Dritten Reich“, für die Verfolgung der Sinti und Roma zuständig war. Ein Mitarbeiter der Sozialbehörde verhörte sich und protokollierte „10“ statt „C“. „Einen Fruchtschuppen 10 gab es nicht“, sagt Perle. Ein Dokument der Lübecker Kripo sorgt für Klarheit. Der Ort, an den sie ihre „Zigeuner“ schickten, war der Fruchtschuppen C.
Lyss wird im Januar 1934 zum Kriminalrat ernannt, im Januar 1938 von Hannover nach Hamburg versetzt. Im gleichen Jahr wird ihm die Leitung der Kriminalinspektion I B (Erkennungsdienst) und somit die Dienstaufsicht für die „Zigeunerdienststelle“ übertragen. Zusätzlich übernimmt er die Inspektion „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“. Er ist an der Planung des zentralen Hamburger „Zigeuner-Sammellagers“ mitbeteiligt. In einer Besprechung mit Vertretern der Hamburger Sozialverwaltung über die „Zusammenfassung der Zigeuner“ am 3. Juli 1939 merkt Lyss mit Blick auf dieses Lager an, man „solle äußerlich den Charakter eines Konzentrationslagers vermeiden“.
Im April 1941 wird er nach Prag versetzt, steigt im September 1942 zum Kriminaldirektor auf. Im Juni 1945 vom Dienst enthoben, wird Lyss mit Wirkung vom 31. Januar 1946 in den Ruhestand versetzt. Am 24. Februar 1947 ordnet der Entnazifizierungsausschuss des Landes Schleswig-Holstein ihn als „entlastet“ ein. Er stirbt im Mai 1973.
Was soll nun werden aus Hannoverschem Bahnhof und Fruchtschuppen C? Diesem Teil der Geschichte der Hafencity? Es wird überlegt, aus dem Lohseplatz eine Gedenkstätte zu machen. Die Reichsbahn müsste hier thematisiert werden, die Hamburger Hafen und Logistik AG, als Eigentümerin des Fruchtschuppens, das Fruchtkontor, die Herren Karl Kaufmann, der NSDAP Gauleiter und spätere Reichsstatthalter, der sich in Hamburg noch heute eines legendär guten Rufs erfreut, und Rudolf Querner, der Höhere SS- und Polizeiführer, als Drahtzieher der Deportation. Und die Profiteure: Die Oberfinanzdirektion hat sich am Vermögen der Deportierten ebenso bereichert wie viele tapfere „Volksgenossen“. Nicht zu vergessen die Hamburger Firmen, die sich durch die Arisierung im Hafen gesund stießen. Der Masterplan aus dem Jahre 2000 gibt einen Hinweis auf die Bedeutung des Hannoverschen Bahnhofs im Zusammenhang mit den Deportationen, bleibt jedoch in Bezug auf Bedeutung und Konzeption eines Gedenkorts vage. Die schwarz-grüne Koalitionsvereinbarung enthält eine Absichtserklärung zum Lohsepark. Aber es gibt den Hochwasserschutz, der vorsieht, das Gelände um zwei Meter zu erhöhen. Was bedeutet das für den Bahnsteig 2? Der Fruchtschuppen C lag auf dem Gelände, das fürs „Science Center“ vorgesehen war, um das es aber in letzter Zeit still geworden ist. Um alles andere war es das ja schon immer.