: Kein Grund zur Klage
Seit der Kostendeckel bei Stuttgart 21 gesprengt ist, streiten sich die Projektpartner, wer wie viel an den Mehrkosten zahlen soll. Gegner des Tiefbahnhofs fordern eine Feststellungsklage, damit die Bahn das Land später nicht erpressen kann. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann winkt ab
von Jürgen Lessat
Eigentlich ist klar, wohin der Hase laufen sollte. „Ich werde keine Situation hinnehmen, in der die Baugrube mitten in Stuttgart ausgehoben, die Finanzierung aber nicht gesichert ist“, hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mehrfach angekündigt, sich bei Stuttgart 21 niemals in eine Zwickmühle begeben zu wollen, aus der er das Land unter Umständen nur teuer herauskaufen kann. Und der erste grüne Oberbürgermeister der Landeshauptstadt, Fritz Kuhn, hatte beim Amtsantritt Anfang 2013 auf gut Schwäbisch bekräftigt: „Mir gäbet nix!“
Doch derartige Bekenntnisse stoßen in der Chefetage des Berliner Bahntowers auf taube Ohren. Dort will man mit den widerspenstigen Projektpartnern übers fehlende Geld reden, wie es die Sprechklausel der Finanzierungsvereinbarung vorsieht. Falls reden nichts bringt, soll Bahnchef Rüdiger Grube die Partner eben verklagen, befahl der Bahn-Aufsichtsrat. Nicht sofort, sondern erst später, wenn das Geld knapp wird. Denn zunächst fließt die Kohle noch jahrelang.
Zum 31. August überweist Finanzminister Nils Schmid (SPD) die nächste Rate. Auf knapp 1,55 Milliarden Euro summieren sich bislang die vertraglich zugesicherten Finanzierungsbeiträge von Land, Stadt, Flughafen und Region. Bund und EU geben mehr als 1,2 Milliarden Euro. Es kann beim derzeitigen Bautempo dauern, bis Ebbe in der S-21-Kasse herrscht.
Stuttgart-21-Kritiker befürchten, dass das Land mit jedem Baufortschritt erpressbarer wird. Seit Monaten trommeln die Redner auf den Montagsdemonstrationen gegen das Bahnprojekt für eine Feststellungsklage. „Die Bahn tut alles, die Frage ,Wer zahlt?‘ so weit es geht hinauszuschieben, um bis dahin den rettenden Point of no return zu erreichen“, sagt Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Gegen diese Weiterbau-Strategie gebe es nur einen wirksamen Hebel: den Gang vor das Verwaltungsgericht. „Eine Feststellungsklage würde erzwingen, dass jetzt schon geklärt wird, wer spätere Mehrkosten zu tragen hat“, argumentiert Sauerborn.
In einem offenen Brief forderte auch der Ortsverein der Cannstatter Grünen den Ministerpräsidenten zum „entschiedenen politischen Handeln zum Wohle des Landes und unserer Stadt“ auf: „Wir haben die große Sorge, dass bei diesem Projekt ein Fass aufgemacht wird, dessen Boden wir nicht erkennen können.“ Doch die Forderungen blieben ohne Resonanz. Von Verkehrsminister Winfried Hermann war bislang zu vernehmen, dass man eine Klage prüfe. Zum Stand der Dinge bekam Kontext über Wochen keine Antwort. Ministeriumssprecher Edgar Neumann begab sich trotz mehrfacher Nachfrage auf Tauchstation. Erst im Umfeld der jüngsten Lenkungskreis-Sitzung erfuhr die Öffentlichkeit mehr. „Das Land plant keine Feststellungsklage“, verriet Ministerpräsident Winfried Kretschmann nebenbei vor der Landespressekonferenz. Ist das auch die Haltung von Fritz Kuhn, der auch in Amt und Würden deutlich kritischer zu S 21 steht als Kretschmann? Es sieht ganz so aus: „Der Oberbürgermeister äußert sich zur Frage einer Feststellungsklage nicht“, wimmelte die Rathaus-Pressestelle eine Kontext-Anfrage ab.
Klage würde die SPD glaubwürdiger machen
Andere plädieren dagegen für einen sofortigen Gang des Landes vor Gericht. „Die Wahrscheinlichkeit, die Klage in fünf Jahren zu verlieren, ist größer als jetzt“, sagt der langjährige SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi. Der bekennende Stuttgart-21-Gegner weiß aber auch, dass seine eigene Partei dafür über ihren Schatten springen müsste. „Eine Klage zu unterstützen würde der Glaubwürdigkeit der SPD nützen“, argumentiert Conradi. Schließlich soll sich beim Wähler nicht der Eindruck festsetzen, dass die Sozialdemokraten für den Prestigebahnhof lieber Lehrer entlassen und die Beamtenbesoldung beschneiden würden.
Dagegen rät der Rechtswissenschaftler Joachim Wieland von einer Feststellungsklage ab – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. „Das Land hat sich verpflichtet, bei einer weiteren Kostensteigerung in Gespräche einzutreten, ohne weitere Zusagen zu machen“, verweist der Professor an der Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer auf die Sprechklausel in der Finanzierungsvereinbarung zu S 21. Das Ergebnis der Gespräche sei von den damaligen Vertragspartnern bewusst offen gelassen worden, analysiert Wieland, der im Auftrag der SPD das S-21-Ausstiegsgesetz formulierte. „Es gibt damit keinen Anspruch gegen das Land, weitere Kostensteigerungen mitzutragen. Es kann aber auch nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass Gespräche doch zu einer Kostenbeteiligung führen.“ Deshalb solle das Land „erst in Kenntnis des Gesprächsverlaufs eine Entscheidung treffen“. Andernfalls könnte dem Land vorgeworfen werden, „dass es die Gespräche nur zum Schein führt und in Wirklichkeit bereits völlig festgelegt ist“, glaubt Wieland.
Ist die Sprechklausel bereits gezogen?
Allerdings streiten sich die Projektpartner bereits darüber, ob die Sprechklausel schon gezogen wurde. Während das Land einen Sondierungsbesuch von Bahn-Infrastrukturvorstand Volker Kefer in Stuttgart vor der Weiterbau-Entscheidung des DB-Aufsichtsrats im vergangenen März so wertet, sieht das die Bahn anders. Der Streit darüber dürfte auch die nächste Lenkungskreis-Sitzung Ende des Jahres überschatten. Die Bahn will dabei die Projektpartner dazu bringen, die jüngste Kostenexplosion bei S 21 auch offiziell zur Kenntnis zu nehmen. Wahrscheinlich grübeln bereits Juristen darüber, ob ein Abnicken des neuen „Gesamtwerteumfangs“ auch als Zahlungsbereitschaft zu deuten ist. Viel Fantasie braucht es jedenfalls nicht, sich auszumalen, dass Kefer bei dieser Gelegenheit erneut die Aufteilung der Mehrkosten anmahnen wird. Voraussehbar werden Verkehrsminister Hermann und OB Kuhn dieses Ansinnen erneut ablehnen.
Wieland sieht aus einem rechtsverbindlichen Urteil über die Feststellungsklage zumindest keine unmittelbaren Konsequenzen für das Land. Egal, wie es ausfallen würde. „Wenn festgestellt würde, dass keine Zahlungspflicht besteht, müsste die Bahn über den Weiterbau auf eigene Kosten entscheiden. Wenn die Klage abgewiesen würde, müssten lediglich Gespräche geführt werden.“ Ein abschließendes Urteil, mutmaßt Wieland, werde ohnehin erst nach mehreren Instanzen und Jahren vorliegen. Die Bahn dürfte dann den Bahnhofstrog im ehemaligen Stuttgarter Schlossgarten bereits ausgehoben und die Tunnelröhren angebohrt haben. Eine Voraussetzung für das Erpressungsszenario, vor dem die Stuttgart-21-Kritiker warnen, wäre dann erfüllt.
Falls die Bahn die S-21-Bauarbeiten dann stoppen und Land und Stadt auf weiteres Geld verklagen würde, müsste das Gericht prüfen, ob deren Finanzierungszusagen zu Stuttgart 21 und der Schnellstrecke nach Ulm gegen das Verbot der Mischfinanzierung verstoßen, hatte Wieland schon früher argumentiert . „Stellt es – wie zu erwarten – einen solchen Verstoß fest, wird das Gericht den Vertrag für nichtig erklären“, schrieb er in der Legal Tribune. Baden-Württemberg und Stuttgart könnten dann sogar die bereits gezahlten Millionenbeträge zurückverlangen. „Vorstand und Aufsichtsrat der Bahn sollten dieses hohe Prozessrisiko berücksichtigen, bevor sie sich zu einer Klage entschließen“, so sein Fazit.