: Kein Entrinnen vor dem Karaoke Von Ralf Sotscheck
Nach zwei, drei Gläsern Guinness bricht der Ire unweigerlich in Gesang aus. Das behaupten jedenfalls die meisten Reiseführer. Ganz so spontan geht es freilich auch auf der Grünen Insel nicht zu. Das Zeitalter der Elektronik hat längst Einzug gehalten – und mit ihm die Karaokes, eine besonders perfide Art der Unterhaltung, die wie eine Seuche um sich greift. Die Möchtegern-Presleys können aus einer Liste von 700 Liedern wählen, deren Original- Begleitmusik in der Karaoke-Maschine gespeichert ist. Auf einem Bildschirm erscheint der dazugehörige Text. Damit niemand den Einsatz verpaßt, ist die Textstelle, die gerade dran ist, rot eingefärbt.
In Trabolgan, einem Feriendorf im Süden Irlands, gibt es vor diesem grausigen Vergnügen kein Entrinnen. Trabolgan ist tagsüber fest in der Hand der Kinder, die im Wellenschwimmbad, im Plastikdschungel oder in der Videospielhölle ihr lärmendes Unwesen treiben. Um Mitternacht, wenn die kleinen Schreihälse endlich im Bett sind, schlägt die Stunde der Erwachsenen: Das Podium in der Kneipe wird zur Karaoke-Bühne. Um dem Publikum die Scheu zu nehmen, singt ein Animateur mit grauem Bart, Goldrandbrille, königsblauer Jacke und schwarzer Hose zunächst sieben oder acht Lieder. Da der Bildschirm an der Wand hinter der Bühne angebracht ist, muß er mit dem Rücken zum Publikum singen – wahrscheinlich eine Schutzmaßnahme, damit man den schrägen Sänger am nächsten Tag nicht wiedererkennt. Aber es kommt noch schlimmer, denn jetzt sind die Gäste dran.
Gleich bei der ersten Freiwilligen geht es jedoch schief. Die Karaoke-Maschine spielt das falsche Lied, und die Sängerin bleibt stumm. Dann sind Paul und Mary an der Reihe. Wo ist Peter? „I'm leaving on a jet plane“, trällern die beiden. Ach, würden sie's doch tun. Aus Mitleid singt das Publikum mit. Danach kommt ein Mittfünfziger, der Ringo Starrs Liebeslied „You're sixteen“ wie eine Kriegserklärung donnert. „Mein Herz machte puff“, brüllt er. Die Karaoke-Maschine leider nicht. Sie hält durch. Der uniformierte Türwächter, der herumschleichende Kinder von der Kneipe fernhalten soll, um sie vor bleibenden Schäden zu bewahren, ist kreidebleich. „Mein Kollege und ich wechseln uns alle zwanzig Minuten ab“, erklärt er. „Länger hält man das nicht aus. Er ist aber jetzt schon drei Minuten überfällig.“ Ann, Catherine und Pat singen im Stile Donald Ducks „Surfin' USA“ von den Beach Boys. Zu fortgeschrittener Stunde schwindet auch der letzte Rest von Schamgefühl. Während ein übergewichtiger Betrunkener auf der Bühne gerade John Lennons „Imagine“ den Garaus macht, kommt eine junge Rollstuhlfahrerin in die Kneipe. Noch in der Tür bremst sie entsetzt ab, macht eine gekonnte Drei-Punkt- Wendung und sucht das Weite.
Am nächsten Morgen deutet nichts mehr auf das schaurige Geschehen in der Nacht hin. Ein Pfarrer hat auf der Bühne – dem Tatort – einen Kneipentisch zum Altar umfunktioniert und hält einen Gottesdienst ab. Die Bar ist noch geschlossen. Trotzdem ist der Laden voll. Vermutlich bitten die meisten um Vergebung für ihre bösen Taten, die sie nur wenige Stunden zuvor auf eben dieser Bühne verübt haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen