Katrin Seddig Zu verschenken: Die vielen schwierigen und anstrengenden Menschen
Es war spät, ich saß im Bus neben meiner Freundin, wir kamen von einer Buchvorstellung im Nachtasyl über dem Thalia-Theater, einen Tag nachdem Trump die Wahl gewonnen hatte. Alle, die ich kannte, waren niedergedrückt, etliche waren bei der Buchvorstellung gewesen, und ich hatte das Gefühl, dass ich rausgehen und Eintritt bezahlen und zuhören muss. Das mit dem Eintritt ist sehr wichtig. Damit es die Clubs noch gibt, Bühnen, Bars.
Nachts im Bus also, ein Mann stieg zu und ging gleich nach vorne durch, fragte den Busfahrer, warum er die vordere Tür nicht geöffnet hatte. Ob und was der Busfahrer hinter seiner Scheibe antwortete, konnten wir von unseren Plätzen aus nicht verstehen. Der zugestiegene Mann war von Beginn an laut, ihn konnte man verstehen. Er versuchte, seinen Kopf in die Lücke zwischen Frontscheibe und Trennscheibe zu stecken, was ihm nur bedingt gelang. Es sah aus, als wollte er mit seinem Schädel zum Busfahrer durchdringen, während sein Körper draußen bleiben musste. Er fragte immer dasselbe, dann setzte er sich auf die vordere Bank.
Mit Ausnahme der ersten Tür standen noch alle Türen auf, Leute stiegen ein. „Warum haben Sie die Tür nicht aufgemacht!“, fragte der Mann immer wieder. Und er fragte, aber es klang wie eine Drohung. Warum hatte dieser Busfahrer denn die Tür nicht aufgemacht? Warum war die Frage so wichtig? War die Demütigung, durch eine andere Tür gehen zu müssen, so groß? War es überhaupt eine Demütigung?
„Und auch noch ein Hesse“, sagte meine Freundin, die selber Hessin ist. Der Mann drehte sich zu uns um. Hatte er sie gehört? Er drehte sich wieder zurück und drohte dem Busfahrer, ihn zu melden. Er zog sein Handy heraus und fotografierte ihn.
„Wenn Sie das noch einmal tun, dann steigen Sie aus“, sagte der Busfahrer, jetzt konnten wir ihn verstehen. Der Hesse fotografierte ungerührt weiter. Der Busfahrer sprach durch die Anlage: „Die Fahrt muss hier leider unterbrochen werden. Steigen Sie bitte alle aus.“
Einige stiegen aus, einige nicht. Auch wir blieben sitzen. Normalerweise gehorche ich, aber etwas hielt uns beide zurück. Auch der Hesse saß noch auf seinem Platz. Was war das für ein Moment? Es war etwas Unentschlossenes, etwas Gefährliches in diesem Raum. Alles konnte passieren. Aber es konnte sich noch nicht entscheiden. Das Leben konnte sich noch nicht entscheiden.
Der Hesse schließlich stand auf, langsam, kam den Gang auf uns zu, stieg durch die mittlere Tür aus, denn vorne hatte der Busfahrer auch dieses Mal nicht geöffnet, ging davon. „Tja“, dachte ich. Alle im Bus dachten das, ich bin mir sicher. Es lag so ein richtig großes „Tja“ in der Luft.
„Die Fahrt kann jetzt fortgesetzt werden“, sagte der Busfahrer durch seinen Lautsprecher. Warum auch nicht? Die Leute, die ausgestiegen waren, stiegen wieder ein, die Türen schlossen sich, wir fuhren.
„Ich hätte dem Busfahrer ja beigestanden“, sagte meine Freundin, „aber der Typ kam mir unberechenbar vor.“
„Er hat ja noch nichts Gefährliches getan“, sagte ich, „Ich frage mich, warum der Busfahrer die Tür nicht aufgemacht hat.“
Das sind die Fragezeichen, die überall lauern, die Unklarheiten, die unauflösbaren Dinge. Das ist die Stadt in der Nacht, die vielen, schwierigen und anstrengenden Menschen, mit ihrer Angst, ihrer Wut, ihrer eigenen Geschichte. Und dann ist man dankbar, dass es doch alles weitergeht. Dass Busse fahren, Bücher vorgestellt werden, Freundinnen neben einem sitzen, dass man nicht allein ist, mit alldem.
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