Katrin Seddig Fremd und befremdlich: Antwort an einen im Grunde toleranten Menschen
Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
In Hamburg hat die Pride-Week begonnen. Freitag schon sah ich auf dem Steigenberger Hotel die Regenbogenfahne flattern. Die Innenstadt kleidet sich bunt, das Rathaus flaggt, an der Alster wird aufgebaut. Der CSD ist mittlerweile eine Tradition wie der Schlagermove, die Erster-Mai-Party an der Roten Flora, Hafengeburtstag und Kirschblütenfest. Und jedes Jahr tauchen auch sie wieder auf, die „im Grunde Toleranten“.
„Die Belästigung durch irgendwelche schrägen Minderheiten steigert sich ins Unerträgliche!“, erklärt einer von ihnen mir in einer Kommentarspalte des NDR. „Ich will keinem sein buntes Treiben verbieten oder darüber urteilen, ich will aber auch nicht durch diese Leute belästigt werden, sei es durch mediale Dauerberieselung, durch lästige Umzüge, Regenbogenflaggen am Rathaus, das auch mir gehört oder durch ,Erziehung’!“ Und um auch mal über sich zu reden: „Ich lebe mein Leben und zwinge meine Lebensart auch nicht anderen Mitmenschen auf!“
Anlässlich der Pride-Week versuche ich mich an einer Antwort: Lieber Im Grunde toleranter Mensch, du möchtest, wie du mitteilst, keinem sein buntes Treiben verbieten, du möchtest aber durch dieses bunte Treiben („lästige Umzüge“) nicht belästigt werden. Was schlägst du vor? Sollen diese Umzüge, die du nicht verbieten, aber auch nicht sehen möchtest, auf dem Mond stattfinden? Sollen sie sich unsichtbar machen? Aber selbst vom Mond und vom unsichtbaren Umzug würde vermutlich berichtet werden, auch das stellte nach deinem Verständnis eine Belästigung dar, von der du verschont werden möchtest („mediale Dauerbelästigung“). Eine Schwierigkeit besteht, wie so oft im Leben, in unterschiedlichen Begriffsinhalten. Was ist Belästigung? Wenn mich in der U-Bahn einer blöd anspricht, empfinde ich das als Belästigung. Wenn einer in der U-Bahn aber einfach nur da ist, dann ist das, nach meinem Verständnis, noch keine Belästigung. Für dich, lieber Im Grunde toleranter Mensch, ist Belästigung das bloße Dasein, die Sichtbarkeit von Menschen, die anders sind als du. Belästigt fühlst du dich durch die Medien, die eine erweiterte Sichtbarkeit herstellen. Belästigt fühlst du dich von Regenbogenfahnen, die dich daran erinnern, dass es diese Menschen, die anders sind als du, gibt, dass sie sich sichtbar machen wollen, sie sind ein Bekenntnis zu dieser Sichtbarkeit. Umzüge belästigen dich am allermeisten, weil sie die Menschen nicht nur als Individuen sichtbar machen, sondern als Masse, es ist kaum möglich, eine solche Masse nicht zu sehen, und das ist es ja, was du möchtest – sie nicht sehen müssen.
Durch Erziehung willst du auch nicht belästigt werden? Das wird schwierig, ist Belästigung doch Hauptbestandteil von Erziehung, aber als erwachsener Mensch darfst du dir schon eine eigene Meinung bilden und sie sogar in Kommentarspalten äußern. Wenn du aber der Ansicht bist, dass das Sichtbarmachen der eigenen Lebensart bereits ein Aufzwingen dieser Lebensart bedeutet, dann muss ich dir leider sagen, dies ist eine Sache, die jeder nicht unsichtbare Mensch auf diesem Planeten tut. Auch du, lieber Im Grunde toleranter Mensch.
Nach deinem Verständnis von Belästigung belästigt du mich und jeden Menschen, der von diesem Kommentar Kenntnis nimmt. Du belästigst mich durch deine Ablehnung und dadurch, dass du dich belästigt fühlst. Du lebst eben nicht nur dein Leben und lässt andere eben nicht in Ruhe, sonst schriebst du keine Kommentare. Die eigene Sichtbarkeit ist dir etwas wert, du willst wahrgenommen und beachtet werden. Du zwingst sogar anderen Leuten deine Lebensart auf, wenn du verlangst, dass sie sich verstecken und keine bunten Umzüge veranstalten sollen, weil das deiner Lebensart in die Quere kommt. Du stellst damit deine Befindlichkeit über das Wohlbefinden anderer Menschen. Und ganz genau wegen Leuten wie dir, müssen diese Umzüge noch lauter und länger und bunter werden. Aber du darfst zu Hause bleiben, du darfst die Berichterstattung ignorieren und dennoch in allen Kommentarspalten deine Meinung kundtun.
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