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Katrin Seddig Fremd und befremdlichSind denn tatsächlich jetzt Hausaufgaben Sache der Eltern?

Foto: Lou Probsthayn

Katrin Seddig ist Schrift-stellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.

Am Schuljahresanfang habe ich mich immer über die sauberen Bücher und Hefte gefreut. Für ein paar Tage habe ich jedes Blatt abgeheftet, mich um ordentliche Schrift bemüht, Hausaufgaben gemacht. Aber dann wurde ich wieder schlampig und faul. „Katrins Ordnung lässt zu wünschen übrig.“ „Katrin hat ihre Unterlagen nicht beisammen. Sie macht nur unregelmäßig ihre Hausaufgaben.“ Sowas stand am Jahresende in meinem Zeugnis.

Meine Hausaufgaben machte ich normalerweise im Schulbus. Meine Eltern interessierte es nicht. Sie wussten, dass ich schlampig und faul war. Sie dachten nie, dass das ihre Angelegenheit wäre. Meine Eltern waren fleißig und ordentlich. Meine Eltern machten aber nie meine Hausaufgaben mit mir. Sie wussten gar nicht, ob und was für Hausaufgaben wir aufhatten. Meine Eltern sind beide acht Stunden arbeiten gegangen, sie hatten drei Kinder, ein Haus und einen Haufen Tiere zu versorgen. Sie sind nie auf die Idee gekommen, dass meine Hausaufgaben ihre Angelegenheit wäre.

Ungefähr so ist es bei den meisten Kindern gewesen, die ich kannte. Heute ist es anders. „Was hatten sie denn gestern auf?“, fragte mich eines Tages eine Mutter in der Grundschule. Ich starrte sie an. Musste ich das wissen? „Was hattet ihr denn gestern auf?“, fragte ich mein Kind. „Weiß ich doch nicht“, sagte mein Kind. Und mir ging auf, dass mein Kind ein ganz ähnliches Kind geworden war, wie ich es gewesen war. „Sorry, nicht gelernt“, schrieb mein Kind unter die erste Klassenarbeit am Gymnasium, darunter ein trauriges Smileygesicht. Es reichte immerhin für eine Vier. Ich zuckte mit den Schultern. Ich musste mir das Lachen verkneifen. Was über all dem steht, die große Frage, das ist: Was ist wichtig?

Lernen ist wichtig, da bin ich mir ganz sicher. Ich lerne immer noch, jeden Tag lerne ich ganz viele Dinge. Ich bin neugierig, ich lese sehr viel, alles, was ich nicht weiß, das google ich, ich schlage nach, ich mache mir Notizen, ich lerne neue Wörter, ich probiere neue Sachen aus. Ich kann fleißig sein. Berufliche Aufträge, die ich selber angenommen habe, erledige ich pünktlich. „Warum machst du das nicht?“, fragte ich einmal mein anderes Kind. „Weil das stumpfsinnig ist“, sagte dieses Kind. „Du wirst eine schlechte Note bekommen“, prophezeite ich. „Ja“, sagte das Kind und las in einem Buch über die Anfänge der elektronischen Musik.

Die Schüler sollen mehr Hausaufgaben bekommen, meint Ties Rabe, der Hamburger Schulsenator. Dies wäre vor allem für die Kinder gut, die nachmittags nicht freiwillig für die Schule lernten. Habe ich jemals freiwillig für die Schule gelernt? Für die Abiturprüfung. Aber sonst? Lernen Kinder freiwillig für die Schule? „In vielen Familien, wo sich die Eltern um die Kinder sehr kümmern, da lernt man sowieso am Nachmittag zu Hause. Und wenn es nicht Hausaufgaben sind, dann wird mal geschrieben oder Memory gespielt“, sagt Herr Rabe.

Habe ich jemals freiwillig für die Schule gelernt? Für die Abiturprüfung. Aber sonst?

Welche Familien meint Herr Rabe? Die, wo wenigstens ein Elternteil nicht arbeiten geht? Denn wie können Eltern unter der Woche am Nachmittag Memory spielen? Sind denn tatsächlich jetzt Hausaufgaben Sache der Eltern? Und was ist mit den Eltern, die kein Deutsch können? Haben meine Eltern sich nicht sehr um uns gekümmert, weil sie keine Hausaufgaben mit uns gemacht haben? Sind Eltern, die nicht mit den Kindern Hausaufgaben machen oder Memory spielen, Eltern, die sich nicht sehr um die Kinder kümmern? Und sollen diese Kinder von diesen Eltern dann zum Ausgleich einfach alleine mehr Hausaufgaben machen müssen? Hilft diesen Kindern das weiter?

Und vor allem, sind diese Kinder bereit, diese Hausaufgaben zu machen? Sind sie nicht größtenteils Kinder, wie ich eines war, die sich dagegen entscheiden, diese Hausaufgaben zu machen? Oder handelt es sich bei diesen Kindern, die Eltern haben, die sich nicht sehr gut um sie kümmern, tendenziell um Kinder, die die Nachteile dieser Eltern durch fleißigeres Erledigen von mehr Hausaufgaben ausgleichen könnten und wollten? Kann man überhaupt auf solch eine Art zu Bildung kommen?

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