Katja Kipping beim taz.lab: „Es braucht Erfindungsgeist“
Statt drei Wochen lieber drei Monate Zeit für Urlaub verplanen? Katja Kipping, Linkspartei-Vorsitzende, im Gespräch über ihr persönliches Zeitmanagement.
taz.lab: „Erfindet!“ heißt das Motte des diesjährigen taz.lab. Frau Kipping, was hat Sie zuletzt dermaßen genervt, dass Sie spontan umgedacht haben?
Katja Kipping: Wirklich herausfordernd empfand ich meine Situation, nachdem ich vorigen Sommer Parteivorsitzende geworden war, obwohl meine Tochter erst wenige Monate alt war. Bei der Beantwortung der Frage, wie das zu vereinbaren ist, lauern jeweils zwei Fallen: Entweder vernachlässigst du deinen Job - oder dein Kind. Das alte Spiel halt: Rabenmutter oder Drückebergerin auf Arbeit. Aber ich bin überzeugte Anhängerin der Vier-in-einem-Perspektive, und deshalb habe ich mich dem offensiv gestellt.
Der, bitte was, Perspektive?
Das ist eine feministisch-marxistische Herleitung von Frigga Haug. Sie geht davon aus, dass es im Leben von Männern und Frauen vier gleichberechtigte Tätigkeitsbereiche gibt, die eine gleich starke Rolle spielen sollen. Erwerbs-, Familienarbeit, politische Einmischung und produktive Muße. Man muss sich das nicht schematisch vorstellen, aber die Grundidee ist, zu sagen: In einer klassischen Arbeitswoche muss für alles gleichermaßen Raum sein.
Und das haben Sie nach der Geburt Ihres Kindes beschlossen?
Das kann man natürlich nicht allein entscheiden. Wenn in einer Gesellschaft die Siebzigstundenwoche zum guten Ton gehört, ist das schwierig. Du kannst nicht einfach auf zwanzig Stunden gehen. Aber das wäre für mich die ideale Form, mein Leben zu führen. Auch politisch finde ich diese Idee gut. Eine Gesellschaft, in der das Standard wäre, finde ich wirklich erstrebenswert.
Geboren 1978 in Dresden, studierte an der TU Dresden Slawistik, Amerikanistik und Rechtswissenschaft. Verbrachte 1996 und 1997 ein Freiwilliges Soziales Jahr in Russland. Lebt mit Mann und Tochter in Berlin und Dresden.
Mitglied des Bundestags seit 2005, seit 2012 gemeinsam mit Bernd Riexinger Parteivorsitzende von Die Linke. Begann ihre politische Karriere im Protestbüro der TU Dresden. War 1999 bis 2003 Stadträtin in Dresden.
Verfechterin des bedingungslosen Grundeinkommens und bekennende Hartz-IV-Gegnerin; Initiatorin der Emanzipatorischen Linken und Gründungsmitglied des Instituts Solidarische Moderne (ISM)
Was heißt das nun konkret?
Strikte Planung. Auch als Frau in einer Spitzenposition möchte ich an einem klassischen Arbeitstag nach 16 Uhr keine Termine mehr annehmen müssen. Wenn doch, dann ist das eine Ausnahme und extrem begründungspflichtig.
Wann war zuletzt etwas extrem begründungspflichtig?
Vor der Niedersachsenwahl. Politik unterliegt ja einem unmittelbaren Zeit- und Handlungsdruck. Trotzdem macht mich dieses Modell nach wie vor glücklich, weil ich das Gefühl habe, dass mein Kampf für Freiräume auch eine politische Dimension hat. Das ist nicht Egoismus, sondern das Kämpfen für Modernität, das Setzen neuer kultureller Standards.
Sie sind überraschend Parteivorsitzende geworden. Zuvor hatten Sie mehrfach betont, nicht zur Verfügung zu stehen. Wovon mussten Sie sich verabschieden?
Als Vorsitzende musste ich mich nicht komplett neu erfinden, aber einiges verschiebt sich. Du weißt viel mehr Sachen, du kennst interne Probleme besser. Und weil du ab sofort die Partei als Ganzes im Blick haben musst, kannst du vieles nicht mehr einfach erzählen. Auch nicht gegenüber politischen Freunden. Und als Vorsitzende muss man noch mehr Entscheidungen treffen.
War das vorher schwerer?
Es ist eine bequemere Position, Entscheidungen anderer zu kritisieren. Marx hat mal gesagt: "Menschen machen ihre Geschichte aus freien Stücken, aber nicht unter frei gewählten Umständen." So ist es auch für mich: ich mache das aus freien Stücken, aber nicht unter frei gewählten Umständen. Man kann nicht immer ganz frei das Eigene durchsetzen. Ich gebe jetzt Sachen meine Handschrift, ohne in sie hundert Prozent Katja Kipping reinschreiben zu können. Es braucht Erfindungsgeist.
Schon mal gedacht, wie schön das Leben sein könnte ohne diesen ganzen Apparat?
Nein, so nicht. Für mich gehört politisches Engagement zum guten, sinnerfüllten Leben dazu. Was mir manchmal fehlt, ist mehr Zeitsouveränität. Ich habe gerade meinen Urlaub geplant. Da stelle ich mir schon die Frage: Wäre es nicht schöner, statt drei Wochen drei Monate Zeit zu haben?
Viele Ihrer Mitglieder sind im Rentenalter. Wie bringen Sie diese dazu, das Neuerfinden der Linken nicht nur zu akzeptieren, sondern es gegebenenfalls sogar zu befördern?
Meiner Erfahrung nach klappt das gut, wenn man auch an deren Erfahrungen anknüpft. Ich hatte etwa die Idee eines Elternbonus: Eltern sollten jeden zweiten Monat einen zusätzlichen freien Tag bekommen, für Behördengänge, Arzttermine und derlei.
... in der DDR hieß das Haushaltstag.
Genau. So habe ich den Genossen das erklärt. Aber damals gab es diesen nur für Frauen, jetzt gäbe es ihn auch für Männer. Das greifen sie gerne auf.
Gesellschaftliche Utopien, linke zumal, können in ihrer Absolutheit auch etwas Tyrannisches haben. Richtig?
Das Entscheidende ist, dass man bei allen Utopien eine Sache klar vor Augen hat: Der Weg dorthin darf nicht durch ein Tal der Tränen führen. Jedes Transformationsprojekt, das die Linke entwickelt, muss das Leben im Hier und Heute verbessern. Das Grundeinkommen ist solch eine Idee. Da ist die Sache glasklar: Die Menschen wären befreit von Existenzängsten, sie hätten ein höheres Maß an Entscheidungsfreiheit, und es könnte die Gesellschaft grundlegend verändern, wenn es verbunden wird mit der Frage, wie und was wir produzieren wollen.
Wie realistisch ist diese Idee?
Wenn man sich die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag anschaut, ist das sehr unrealistisch. Nicht mal eine Weihnachtsbeihilfe für die Ärmsten geht dort durch. Aber warum sollte sich in einer Demokratie so was nicht durchsetzen? Das setzt natürlich voraus, dass man sich frei macht von dem Denken, nach dem der menschliche Wert nur über Erwerbsarbeit definiert wird.
KATJA KIPPING auf dem taz.lab am 20. April - im Gespräch u. a. mit Hanna Gersmann, Ressortleiterin Inland der taz
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