■ Karneval entzweit Bonn und Berlin: Ersatzberieselung im Gruselkabinett
Die ganze Debatte ging am Wichtigsten vorbei. Zwar haben die Bonner schon fast jedes denkbare Argument ins Feld geführt, um sich als Hauptstadtmuffel zu profilieren: Von Regierungsbauten aus vergangenen Diktaturen, in denen demokratischer Geist nicht gedeihen könne, bis hin zum fehlenden Pflichtfach Religion an hiesigen Schulen – keine Banalität war den Bürokraten zu schade, um der drohenden Verschickung an die Spree zu entgehen.
Doch erst jetzt erfahren wir, was Bundeshaupt- und Bundesstadt wirklich entzweit: Es ist der Karneval. Jenes archaische Brauchtum, das erwachsene Beamte albern verkleidet und schon vormittags alkoholisiert durchs Büro torkeln läßt und ihnen auf diese Weise eine zusätzliche Urlaubswoche sichert, ist in Berlin schlicht unbekannt. Wer vor Jahren aus der westdeutschen Provinz gen Berlin zog, hat das frühkindliche Trauma längst verdrängt. Keine großangelegten Umzüge, bei denen verhinderte Kabarettisten mit den immer gleichen Kanzler-Kohl-Figuren auf ihren Wagen bonbonwerfend durch die Straßen tuckern, keine „Sitzungen“, auf denen hornbebrillte Senioren sogenannten „Frohsinn“ in beamtenhaft-bürokratische Bahnen lenken.
Dieses Jahr aber wirft der Regierungsumzug seinen Schatten voraus. Nicht genug, daß seit einiger Zeit eine Kneipe namens „Ständige Vertretung“ den rheinischen Gute-Laune-Terror an den Schiffbauerdamm zu verpflanzen sucht, wo er nicht anders als peinlich wirken kann. Jetzt treibt es der Wirt noch weiter und will dort Karneval feiern. Doch um der Überfremdung einen Riegel vorzuschieben, hat das wackere Bezirksamt ihm erst einmal verboten, den heutigen Rosenmontag lautstark zu begehen.
In Wahrheit aber stört die Anwohner nicht der schnöde Lärm, den sie als Grund für ihren Einspruch vorschoben. Daß sie den Beamten schrieben, sie müßten „der Ordnung halber“ auf der Nachtruhe bestehen, ist für die Bonner natürlich ein gefundenes Fressen.
„Das preußisch-verklemmte Moralstreben“, sprang eine Berliner Volkskundlerin den Rheinländern prompt bei, kollidiere in diesem Fall „mit der rheinischen Vorliebe, zu feiern und sich gehen zu lassen“. Die verbitterten Bonn-Freunde saßen also das ganze Wochenende mit Kopfhörern zur karnevalistischen Ersatzberieselung vor ihren Kölsch- Gläsern und sinnierten über die verklemmten Hauptstädter. Am heutigen Rosenmontag wollen sie in den Tränenpalast ausweichen.
Ansonsten aber steht der Karneval im Berliner Veranstaltungskalender dort, wo er hingehört: Unter der Rubrik „Kinder“. Da gibt es heute eine Rosenmontagsparty im „Gruselkabinett“, und morgen richtet die „Blaue Garde Britz e. V.“ im Gemeinschaftshaus Gropiusstadt ihren „traditionellen Kinderfasching“ aus. Ältere Semester müssen mit dem Ernst-Reuter-Saal vorliebnehmen, wo am Dienstag ein „Seniorenfest mit Seeräuberromantik“ auf dem Programm steht.
Aber auch in die politische Sphäre Berlins hielt die kleine Schar der hauptstädtischen Karnevalisten bereits Einzug, als Weddings SPD-Bürgermeister Hans Nisblé zu Weiberfastnacht seinen Schlips einbüßte.
Die Union dagegen feierte ihren politischen Aschermittwochen schon einige Tage vor der bayerischen Schwesterpartei. Daß bei Diepgen und seinen Getreuen seit dem Parteitag am Wochenende Katerstimmung herrscht, wird sie von karnevalistischem Gebaren hoffentlich kuriert haben. Ralph Bollmann
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen