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Karaoke ist ernst und nicht einfach nur so und wegen egalNow I’m only falling apart

Foto: Wolfgang Borrs

Erwachsen Martin Reichert

Haben Sie sich an einem dunklen Vorwinterabend schon mal die Frage gestellt, welche Songs unbedingt auf Ihre Playlist gehören sollten, wenn Sie eine Karaoke-Bar aufsuchen?

Sie waren noch nie in einer Karaoke-Bar? Ich gestern auch zum ersten Mal, der dunkle Vorwinterabend hatte damit zu tun. Einfach raus aus der Bude und rein in die Stadt, auch und erst recht an einem Montag. „Total Eclipse of the Heart“ von Bonnie Tyler wollten wir singen und „I am what I am“ von Gloria Gaynor, unbedingt und jetzt und wegen – egal.

Mein Freund und ich quetschten uns in eine der vielen, engen Kabinen, in denen bereits kleine Grüppchen zusammenhockten. Es gibt da so eine Hemmung, die Tür zu öffnen: Man will nicht stören, ist ein Eindringling. Ein Fremder. Zwei Jungs singen ein Lied von Coldplay, eine junge Frau begrüßt uns in makellosem Englisch.

Später wird sie erzählen, dass sie gerade ihre erste Therapie hinter sich hat, glaubt, nicht singen zu können. Und glaubt, dass ihr Englisch ganz furchtbar ist. Und später stellt sich heraus, dass sich das Grüppchen gar nicht kennt. Fremde in einer Box, die singen, sich dabei zum Horst machen und anders als im richtigen Leben warmen Applaus dafür bekommen. Amateure. „Once upon a time I was falling in Love. Now I’m only falling apart“ grölen wir in die Mikrofone, ein cheesy Refrain, bei dem ich immer leicht hysterische Lachanfälle bekomme.

In einer anderen Box sitzt eine Frau, die aussieht wie die junge Hillary Clinton. Sie singt „These Boots are made for Walking“ mit dem Timbre einer viel Sport treibenden Oberschülerin, bevor sie geht. Als Nächstes ist eine Frau um die fünfzig dran, die irgendwann in ihrem Leben beschlossen hatte, dass auch ihr Körper von nun an der einer Frau sein soll – und darf. Sie singt traurige Liebeslieder, mit kratziger Stimme. Beugt sich vor, um den Songtext auf dem Monitor besser erkennen zu können. In ihrem langen Kleid bleibt sie sitzen auf der Bank in der winzigen Box mit der schlechten Luft, weil geraucht wird.

Ein junger Mann erhebt sich und singt ein Lied von Usher – er ist so gut, dass man gleich denkt: Der gehört hier gar nicht hin. Und nach zwei Minuten geht die Tür der Box auf, ein Freund von ihm steht aufgelöst dort und ruft: „Du sollst auf der großen Bühne singen!“ Das Talent mit dem Schmelz in der Stimme lässt das Mikrofon liegen und eilt davon, als ob er zur Royal Albert Hall müsse und nicht auf die kleine Bühne neben dem Tresen. Es ist ernst und nicht einfach nur so und wegen egal. Hier also kommen sie her, all die Talente und auch die Verhinderten, die später von Dieter Bohlen gedemütigt werden.

Nun waren mein Freund und ich allein mit der Frau, die sich erkämpfen musste, das zu sein, was sie ist. Und wir fragten sie, ob sie nicht Lust hätte, mit uns zusammen Gloria Gaynor zu singen, „Life’s not worth a damn / till you can shout out / I am what I am“. Ein eigentlich totgenudelter Musicalsong kann in bestimmten Situationen wieder zu der Hymne werden, die er einst war. Wenn er von einander fremden Amateuren in einer engen Kiste gesungen wird, die doch etwas verbindet.

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