Kapitulation vor sinnloser Gewalt

In der Neuköllner Pflügerstraße wehrten sich die Mieter eines Hinterhauses gegen die jahrelangen Schikanen der Hauswartsfamilie. Kurz darauf wurden neun Brandanschläge verübt. Die Mieter zogen aus  ■ Von Uwe Rada

November. Nieselregen. Neukölln. Olaf Wagner* steht im Hof der Pflügerstraße 63 und zeigt auf das gelbgetünchte Hinterhaus. Dort gähnt im dritten Stock eine schwarzumrandete Fensterhöhle, die unübersehbare Hinterlassenschaft eines Wohnungsbrandes. „Neunmal hat es hier innerhalb kürzester Zeit gebrannt“, sagt Olaf Wagner mit ruhiger Stimme. Der angehende Jurist steigt das Treppenhaus nach oben. Die Wohnung im dritten Stock ist gesperrt, die Tür mit Holz zugenagelt. Olaf Wagners Gesicht ist regungslos, zeigt einen Zustand der Nachwut, der Nachtrauer, der Nachangst. „Neun Anschläge, die allesamt nicht aufgeklärt wurden“, sagt er. „Wer das miterlebt, dem geht es nicht mehr um Rache, der will einfach nur noch wissen, warum.“

Der vorerst letzte und zugleich folgenschwerste Brand in dem Altbau war am 19. Oktober ausgebrochen und hat die Hinterhauswohnung im dritten Stock völlig zerstört. Ein Brand mit beinahe tödlichem Ausgang. Die Brandstifter hatten ein Sofa ins Treppenhaus gestellt und angezündet. Eine Mieterin war vom Brand im Schlaf überrascht worden und stand bereits sprungbereit auf dem Fenstersims, als sich die Feuerwehr durch die Wand aus Qualm und Feuer gekämpft hatte. „Zehn Minuten später“, hieß es hinterher bei der Feuerwehr, „und ein Durchkommen wäre nicht mehr möglich gewesen.“

Olaf Wagner schüttelt den Kopf. Für ihn ist nun Schluß. Er holt an diesem Novembernachmittag sein verbliebenes Hab und Gut aus der Hinterhauswohnung. Kurz zuvor hatte er dem Eigentümer der Pflügerstraße 63, Hugo-Manfred Kriebel, gekündigt. Fristlos. Kriebel nahm die Kündigung an. Kommentarlos. Eine andere Wohnung hat Wagner noch nicht. Vorerst kommt er bei einem Freund in Prenzlauer Berg unter.

Auch die anderen Mieter aus dem Hinterhaus haben kapituliert, schlafen bei Bekannten, schaffen nach und nach ihre Wertsachen aus den Wohnungen. Einzig eine türkische Großfamilie, die zwei Wohnungen im Quergebäude bewohnt, hat noch keine andere Bleibe gefunden. Für die Kemals ist die Angst vor dem eigentlich Unbegreiflichen noch gegenwärtig: „Warum“, fragt Erdal Kemal und zupft jeden am Arm, der es hören will, „warum gibt es Menschen, die so etwas machen?“

Selbstverschuldete Wohnungsbrände und Brandstiftungen gehören in Berlin zum Alltag, auch von Kriminaloberkommissar Schumann vom Ersten Brandkommissariat der Kripo in der Keithstraße. Eine solche Häufung von Brandanschlägen wie in der Pflügerstraße, sagt Schumann, habe er aber noch nicht erlebt.

Angefangen hatte alles im August. „Die Söhne der Hauswartsfrau“, erinnert sich die Bewohnerin Marga Niemeier, „hatten wieder einmal Rambo gespielt.“ Für die Mieter der Pflügerstraße 63 nichts Neues. „Mal lauern die den Frauen im Haus gezielt auf“, sagt Marga Niemeier, „ein anderes Mal lassen sie die Luft aus den Fahrrädern oder lärmen die ganze Nacht hindurch.“ Die Söhne der Hauswartsfrau sind, was die Mieter normalerweise Opfer nennen würden: arbeitslos, ohne Chance, einer von ihnen geistig behindert. „Aber es gibt auch die Opfer solcher Opfer“, sagt ein Mieter.

In der Pflügerstraße 63 sind das die Bewohner, die den Schikanen der Hauswartssöhne bereits seit Jahren hilflos zusehen. „Der Hof“, klagt eine Mieterin, „war ihr Terrain, das sie mit keinem teilen wollten, in die Keller brachen sie nach Belieben ein und schoben es irgendwelchen Polen in die Schuhe.“ – „Wenn wir einen von denen angesprochen haben“, sagt Marga Niemeier, „dann fiel ihnen nichts Besseres ein, als zu behaupten, die türkischen Mieter würden ihren Müll aus dem Fenster werfen.“

Nur einer der Hauswartssöhne, die sich zu den Vorwürfen der Mieter nicht äußern wollen, lebt nach Angaben der Mieter mit seiner thailändischen Ehefrau legal in der Pflügerstraße 63. Die vier anderen schliefen entweder in der mit Ramsch vollgestopften Erdgeschoßwohnung ihrer Mutter, oder sie schlugen, meint Olaf Wagner, „ihr Nachtlager gleich im Keller auf“. Daß sich der Eigentümer wenig um das Haus gekümmert habe, sagt Wagner, habe er zu Anfang sympathisch gefunden. Seit dem August wäre ihm freilich nichts lieber gewesen, als daß sich Kriebel endlich um das Haus gekümmert hätte.

Als einer der Söhne schließlich eine leere Hinterhauswohnung besetzt hatte und die Kette merkwürdiger Zusammenkünfte auf dem Dachboden und in den Kellerräumen nicht abreißen wollte, platzte Olaf Wagner und seinen Mitmietern der Kragen. 18 von 25 Mietparteien schrieben im August einen Brief an Hauseigentümer Kriebel und forderten ihn auf, dem schikanösen Treiben ein Ende zu bereiten. Außerdem sollte die von den Söhnen genutzte Hinterhauswohnung schnellstens wieder vermietet werden.

Nichts von alledem geschah. Hugo-Manfred Kriebel, von Beruf Steuerberater, hatte nicht auf den Brief der Mieter reagiert. Reagiert, agiert haben andere, Unbekannte, wie es im Ermittlungsdeutsch heißt. In der Nacht vom 3. auf den 4. Oktober entdeckte eine Mieterin im dritten Stock des Hinterhauses einen brennenden Zeitungsstapel. „Die Täter wußten ganz genau, daß der Wind den Brand nach oben bläst“, sagt sie und zeigt sich überzeugt, daß es sich um einen gezielten Anschlag handelte: Im vierten Stock wohnten jene Mieter, die den Brief an Kriebel ihren Mitmietern zur Unterschrift vorgelegt hatten.

Die kurz darauf eingeschaltete Kripo konnte nicht verhindern, daß es am nächsten Morgen wieder brannte: am selben Ort, mit derselben Methode – einem in Flammen gesetzten Zeitungsstapel. Als es am Abend des 5. Oktober erneut brannte, hörten die Mieter Schritte auf dem Dachboden. Seitdem hegen die Bewohner keinen Zweifel mehr daran, wer die Brände gelegt hat: „Den Schlüssel zum Boden hatte nur die Hauswartsfamilie“, sagt Marga Niemeier. Das bestätigt auch Eigentümer Kriebel. „Erst nach den letzten Bränden“, versichert er, „haben zwei Mietparteien aus dem Hinterhaus einen weiteren Schlüssel bekommen, um im Notfall über den Boden flüchten zu können.“

Die Serie der Brände ging unterdessen weiter. Am Morgen des 6. Oktober brannte im Erdgeschoß des Hinterhauses ein altes Sofa. Acht Stunden später brannte es erneut zwischen dem dritten und vierten Stock. Wiederum drei Stunden später brannte es zum sechsten Mal.

Die Stimmung in der Pflügerstraße 63 wurde aggressiver: Die Hauswartssöhne beschimpften die Mieter als Brandstifter, drohten einem von ihnen mit einer Axt. Die Hauswartsfrau kündigte an, die Katzen einer Mieterin umzubringen und sie das Treppenhaus herunterzuwerfen.

„Bis dahin konnte man das alles noch als Psychoterror bezeichnen“, sagt Mieterin Karola Kremer. Am 7. Oktober war dieser „Psychoterror“ zu Ende: Seitdem spricht Karola Kremer von „Mordversuch“. An jenem 7. Oktober wurden die Treppen vom Dachgeschoß zum vierten Stock und der gesamte Treppenabsatz mit einem Benzin-Öl-Gemisch übergossen. Doch bevor das Brandgemisch angezündet werden konnte, bemerkte Karola Kremer den Geruch und rief die Feuerwehr. Auch für sie steht außer Zweifel: „Die Täter sind über den Dachboden geflüchtet.“

Für viele Mieter waren die Brandstiftungen und die Ermittlungen der Kripo ein Katz-und- Maus-Spiel, bei dem ihnen das Lachen im Halse steckenblieb. Kurz nach dem siebten Brand beschlossen die Beamten, sich auf die Lauer zu legen. Umsonst. Die Mieter sind noch heute verärgert: „Die haben das im Hof so laut angekündigt, daß es jeder hören mußte“, schimpft eine Bewohnerin. Kaum war die Kripo verschwunden, brannte es zum achten Mal. „Bei diesem Brand“, sagt ein Mieter, „hat sich die Hauswartsfrau nicht über das Feuer aufgeregt, sondern darüber, daß ein Mieter die Tür zum Dachboden eingetreten hat, um nach den Tätern zu suchen.“

Nach dem Großbrand vom 19. Oktober schließlich wandelte sich die Hilflosigkeit gegenüber den Brandstiftern endgültig in Wut gegenüber dem Hauseigentümer. „Kriebel hat nur den Kopf in den Sand gesteckt“, sagt Marga Niemeier, „der hat selbst zugegeben, daß er vor den Hauswartssöhnen Angst hat.“ Von Kriebels Sekretärin erfuhr ein Mieter, daß die Bewohner der Pflügerstraße 63 telefonisch nicht mehr zum Eigentümer durchgestellt werden sollen. Zwar hatte Kriebel nach dem Großbrand der Hauswartsfrau die Stellung gekündigt und zweien der Hauswartssöhne ein Hausverbot erteilt. Doch die Mieter bezeichnen die Reaktion Kriebels als „halbherzig“. Tatsächlich hatte Kriebel die Verbotsverfügung dem zuständigen Polizeiabschnitt in der Sonnenallee nicht schriftlich mitgeteilt.

In den Gesichtern von Karola Kremer und Marga Niemeier steht noch immer Ratlosigkeit geschrieben, als sie im November im Hof der Pflügerstraße 63 auf Eigentümer Kriebel treffen. Was er denn machen würde, wenn er selbst in der Pflügerstraße wohnen würde, wird Kriebel gefragt. „Wahrscheinlich ausziehen“, entfährt es dem Eigentümer.

Kriebel, im beigefarbenen Trenchcoat und betont jovial, tut, was er kann. Er bescheinigt der verbliebenen türkischen Familie, daß ihre Wohnung unbewohnbar sei. Inzwischen hat auch der Neuköllner Baustadtrat Bodo Manegold (CDU) versprochen, sich schnell und unbürokratisch um eine Ersatzwohnung für die Kemals zu kümmern. Hörbar um einen scharfen Ton bemüht, steht Kriebel im Hof und streitet mit der Hauswartsfrau. „Mit der Hauswartsstelle verlieren Sie nicht nur Ihre Arbeit, sondern auch Ihre Wohnung“, bekundet der grauhaarige Eigentümer. Doch die Frau zeigt sich wenig beeindruckt: „Wegen mir“, sagt sie, „kann das ganze Haus abbrennen.“

Marga Niemeier will an diesem Novembertag vor allem ihr Klavier in Sicherheit bringen. Nach dem letzten Brand war zweimal in die verlassenen Wohnungen eingebrochen worden, eine Stereoanlage und 1.000 Mark in bar wurden entwendet. Seitdem die Mieter aus dem Hinterhaus ausgezogen sind, gab es keine Brandanschläge mehr. „Das Schlimmste ist“, sagt Marga Niemeier, „daß man dieser Art der Gewalt von Leuten, die offenbar nichts zu verlieren haben, wehrlos ausgeliefert ist.“

Welche Motive die Brandstifter letzten Endes trieben, werden die Mieter wohl niemals genau erfahren. Die Söhne der Hauswartsfrau, wurde ihnen mitgeteilt, hätten insbesondere für den 19. Oktober ein Alibi. Ein Schausteller auf einem Rummelplatz habe versichert, daß sie zur Tatzeit bei ihm gearbeitet hätten. Zwar dementiert Kriminaloberkommissar Schumann inzwischen die Gerüchte, daß er das Verfahren eingestellt habe. Zum Stand der Ermittlungen will er allerdings nichts sagen.

Olaf Wagner schaut noch einmal auf die ausgebrannte Hinterhauswohnung. „Nicht auszudenken“, sagt er, „wenn es bei den Bränden Tote gegeben hätte. Dann müßten wir uns jetzt fragen, ob das der Preis dafür gewesen wäre, daß wir den Beschwerdebrief geschrieben haben.“ Doch schließlich fügt er hinzu: „Das mit den Bränden konnte doch keiner ahnen.“

*Die Namen der Mieter wurden von der Redaktion geändert