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Archiv-Artikel

„windland“ von uta ruge Kalte Mütter

Gleich zu Beginn beschreibt Uta Ruge ihre „aus meiner Kindheit stammende, von Neugier und Abwehr geprägte Aufmerksamkeit für die alten Geschichten“. Neugier und Abwehr – auch in der Familie Ruge kam man also bei den alten Geschichten nicht ohne Ambivalenzen aus; ein Zug, den das Buch „Windland“ mit vielen der derzeit boomenden Familienerinnerungsbücher gemein hat. (Wenn man unter Literaturkritikern zusammensitzt, kann es zurzeit durchaus vorkommen, dass der eine oder andere sich schon lustig macht über Dachböden, auf denen plötzlich bislang verschollene Fotos oder Briefe auftauchen.) Es gibt aber mindestens zwei Aspekte, die Uta Ruges Buch unverwechselbar machen – und man denkt, dass das genau diese Aspekte sein könnten, derentwegen es trotz des allgemeinen Erinnerungshypes bislang eher übersehen wurde. Allerdings: Zu Unrecht übersehen.

Da ist zum einen der norddeutsche, direkte Ton. Uta Ruge wuchs in Niedersachsen auf, vor allem aber sind ihre Eltern kurz nach ihrer Geburt 1953 von Rügen aus geflohen. Die Familiengeschichte spielt zu großen Teilen in Wiek und Nobbin auf Rügen, und das bedingt den mehr als nur fokloristischen plattdeutschen Beiklang der Erinnerungen. Wir befinden uns hier ganz am Rande Deutschlands, auf der Halbinsel Wittow, vom übrigen Rügen nur über die schmale Schaabe zu erreichen. Welche Auswirkungen die große Geschichte Deutschlands noch in seinem letzten Winkel hat, das kann man also bei Uta Ruge nachlesen. Und: Welche Entwicklungen auch hier am Rand mentalitätsgeschichtlich zu den Nazis hinführten, dafür findet sich viel Material – erzählt von Uta Ruge immer anhand der konkreten Familiengeschichte.

Der zweite Aspekt ist noch wichtiger. Uta Ruge führt eine Auseinandersetzung mit ihrer (1989 gestorbenen) Mutter. In diesen Abschnitten wird das Buch zu einer Studie über menschliche Kälte. Anhand eines Lehrlingsbuchs, das die Mutter während ihrer Lehre auf einem Bauernhof geführt hat, versucht die Tochter die Mutter zu verstehen. Und: Da ist kein Weg für Verständnis. Nichts hat die Mutter angerührt. Da sind nur Pflicht, Fleiß und Gehorsam. In seinem Erinnerungsbuch „Am Beispiel meines Bruders“ hat Uwe Timm seine Mutter als leuchtendes Beispiel einer verständnisvollen, warmen Frau geschildert. Dass das gewiss nicht für alle deutschen Frauen dieser Generation gilt, das lässt sich bei Uta Ruge erfahren.

1938 fährt die Mutter zum Arbeitsdienst. Uta Ruge: „Am Ende des Arbeitsdienstes ist aus dem schüchternen, traurigen Mädchen von Nobbin eine jener Angst einflößenden jungen Frauen geworden, deren Anblick uns Nachgeborenen den Schrecken in die Glieder fahren lässt.“ Wenige Seiten vor dem Zitat sah man die Mutter auf einem der abgedruckten Familienbilder mit anderen Frauen im Kreis um einen Fahnenmast stehen, an dem die Hakenkreuzflagge gehisst wird; alle Frauen haben den Arm zum Hitlergruß erhoben.

Diese Kälte hat die Mutter dann an ihre Kinder weitergegeben. Über ihre eigene Kindheit, von schwerer Arbeit auf einem Bauershof geprägt, schreibt Uta Ruge: „Zu vieles lernten wir mit angehaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen zu tun. Aber auch die Erwachsenen um uns herum schienen ja nur diese Stelle in sich zu kennen, von der aus das Leben als Kampf und Anstrengung gemeistert werden musste.“

Aufarbeitung der Vergangenheit!, Deutsche auch als Opfer!, Traumatisierungen überwinden! Man könnte es sich leicht machen und auf eine dieser großen Erzählungen verweisen, die literarischen Werken derzeit anscheinend große Aufmerksamkeit bescheren. Aber das alles klingt bei „Windland“ zu laut. Deshalb hier ein Hinweis auf eine kleine Erzählung, die zu lesen sich lohnt: Neugier und Abwehr – man versteht nach dem Lesen dieses Buches ein bisschen besser, wie zentral diese ambivalente Haltung in Deutschland lange Zeit war. DIRK KNIPPHALS

Uta Ruge: „Windland“. Kindler, Berlin 2003. 224 Seiten, 19,90 Euro