BARBARA OERTEL ÜBER DAS FORTWÄHRENDE MORDEN IN TSCHETSCHENIEN : Kalkulierte Ignoranz
Kaum werden mit Sarema Sadulajewa und ihrem Ehemann wieder Menschenrechtler in Tschetschenien kaltblütig ermordet, erinnert man sich daran, dass in Tschetschenien vielleicht doch nicht alles zum Besten steht. Mit dieser nur punktuellen Empörung wird der ohnehin zynischen russischen Politik im Nordkaukasus noch eins draufgesetzt: Es müssen schon prominente Opfer zu beklagen sein, damit diese Region wieder ins Blickfeld der internationalen Gemeinschaft gerät. Ansonsten findet für sie Tschetschenien nicht mehr statt. Warum auch?
Offiziell wurde die Antiterror-Operation der Russen im vergangenen April für erfolgreich abgeschlossen erklärt. Amtlicher Lesart zufolge ist Tschetschenien damit wieder auf Normalisierungskurs. Dass unter der brutalen Herrschaft des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow jeden Tag Menschen verschleppt, gefoltert und getötet werden, wird nicht weiter ernst genommen. Zur Verantwortung gezogen wird in der Regel niemand. Künftig werden noch weniger Informationen über die zahlreichen Gräueltaten nach außen dringen. Denn nach dem Mord an Natalja Estimirowa hat mit Memorial eine der letzten dort tätigen Menschenrechtsorganisationen ihr Büro bis auf weiteres geschlossen.
Mit Ausnahme der Tschetschenen können mit dieser Verdrängung alle gut leben – allen voran die westliche Staatengemeinschaft. Angesichts florierender Wirtschaftsbeziehungen, einer erdrückenden Abhängigkeit im Energiebereich und der Furcht vor etwaigen diplomatischen Verwerfungen ist es opportun, wegzuschauen und Russland nicht mit klaren Worten zu kritisieren – auch um den Preis einer Mitverantwortung für schwerste Menschenrechtsverletzungen in diesem Land.