piwik no script img

■ Kakerlaken heißen in Rußland Tarakany. Während die meisten Menschen mit Ekel auf Küchenschaben reagieren, hat die Insektenforscherin Nina Alexandrowna diesen Tierchen ihr Leben gewidmet. Aus Moskau Barbara KerneckDer Siegeszug der Küchenschabe

Man findet sie in Nischen und Ritzen. Ob im Bad, in der Küche oder im Vorratskeller, es gibt kaum einen Ort, den die Küchenschabe meidet. Vor gut 300 Jahren starteten die aus Asien oder Afrika stammenden Allesfresser ihren Siegeszug um die Welt. Heute gibt es kaum eine Metropole auf der Welt, in der der Kakerlak sich nicht heimisch gemacht hat.

Nina Alexandrowna Alescho nimmt mit zwei Fingern ein etwa drei Zentimeter langes, widerborstig strampelndes Tierchen hoch. „Ich muß vorsichtig sein, um sie nicht zu beschädigen“, erklärt die fragile Frau, „schließlich haben wir hier ein Laboratorium und keine Erste-Hilfe-Station.“ Die Wissenschaftlerin ist in ihrem Element.

Ringsum raschelt und tastet es mit langen, haarfeinen Fühlern. Schaben, Kakerlaken, Cockroaches oder, wie sie auf russisch heißen: Tarakany. Sie nisten zwischen Watte in riesigen, zylindrischen Gläsern, die eher für Salzgurken geschaffen scheinen. Die Deckel ersetzen leichte Gazeläppchen. Für den Chitinpanzer der ausgewachsenen Exemplare wäre es ein Kinderspiel, den Stoffetzen beiseite zu schieben und ins Freie zu entweichen. Trotzdem bleibt eine jegliche Art in ihrem Glas.

Die Symbiose zwischen Schabe und Mensch beruht meist auf dem einseitigen Streben der Insekten. In diesem Raum des Moskauer Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Prophylaktische Toxikologie und Desinfektion vollzieht sie sich zum Wohle der Parasiten und zum Glücke ihrer Wirtin.

Die hier keimfrei aufgezogenen Laborkakerlaken wären dem Überlebenskampf im verseuchten Großstadtdschungel kaum gewachsen. Für Frau Alescho aber wäre ein Leben ohne die Schaben längst undenkbar. Als Kind wollte sie eigentlich Ballettänzerin werden. Doch der Wunsch ließ sich nicht verwirklichen, und schließlich spezialisierte sich das Mädchen mit der Wespentaille auf das Gebiet der Entomologie, der Insektenforschung.

Sie hat es nie bereut. Auch wenn sie bisweilen im Auftrag des Staatskommitees für Sanitärepidemiologische Aufsicht auf den Spuren gewisser Kakerlakenpopulationen bis zu den Knien in den Abwässern der Moskauer Kanalisation watet. „Wenn du dich mit einer faszinierenden Sache lange beschäftigt hast, bist du ihr geweiht“, sagt Nina Alexandrowna. Auf ihrer schmalen Gratwanderung zwischen den Tiefen und Höhen der Wissenschaft schafft es diese Frau, auch die ihr anvertrauten Forschungsobjekte innerhalb gebotener Grenzen zu halten. „Einfach“, so sagt sie, „per Übereinkunft“ mit ihnen.

Keine Hindernisse hingegen kannte seit 200 Jahren der Vormarsch der Schaben durch Rußland vom Westen her. Am verbreitetsten im Lande ist heute die etwa anderthalb Zentimeter lange, rötlich-braune Deutsche Schabe (Blattella germanica). In Rußland nennt man sie auch die „Preußen“, weil sie ab 1762, nach dem Krieg mit Preußen, ins Land kamen.

Die stets durstigen, flinken Exemplare flitzen auf ihren mit Hydrorezeptoren ausgestatteten Füßchen selbst die glattesten Wände hoch. Sie reisen auf Fernzügen und mit Flugzeugen. Böse Zungen munkeln, daß sie sogar in Raumschiffen anzutreffen sind. Viele russische Computerbesitzer wissen ein Klagelied davon zu singen, daß die Schaben sich vorzugsweise in den Nischen von wärmeabstrahlenden Elektrogeräten aufhalten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg eroberte das Tier, das aus der Wärme kam, nacheinander die Städte des russischen Fernen Ostens. Die größeren, bis zu drei Zentimeter langen, schwarzen Blatta orientalis, die Gemeinen Küchenschaben, überschritten die russischen Grenzen ebenfalls vor gut 250 Jahren. In den letzten 15 Jahren haben die „Amerikanerinnen“ mit ihren gelbgestreiften Bäuchen in Moskau stabile Populationen gebildet.

Heute ist die russische Hauptstadt eine der Kakerlakenmetropolen der Welt. Jedes dritte Moskauer Haus ist von ihnen befallen, so gut wie jeder Lebensmittelladen und absolut jedes Wohnheim. In der Nachkriegszeit wirkte sich die Betonplattenfertigbauweise stark schabenfördernd aus. Sie bedingt zahlreiche Ritzen in den Häusern. Als letzter Schrei galten stockwerkverbindende Müllschlucker – lauter kleine Nationalparks für Kakerlaken.

Einer der Moskauer Großstadtmythen besagt, die Schaben schwämmen in den Kanalisationsrohren von Etage zu Etage und kröchen aus den Toilettenbecken. „Unsinn“, widerspricht Frau Alescho: „Schon nach zwanzig Minuten unter Wasser fallen sie in Ohnmacht. Die Schabe ist kein Unterseeboot, sondern ein offenes System. Das Wasser dringt durch die Ritzen ihres Chitinpanzers.“

Besonders durchlässig sind übrigens die Jungtiere, Nymphen genannt, weil ihre Haut sich noch abstreifen lassen muß. Im Durchschnitt sechs- bis siebenmal häuten sich Blattella germanica und Blatta orientalis, bis sich die Nymphen in erwachsene Tiere verwandeln. Auch Kälte killt Kakerlaken. Die russischen Bauern entledigten sich dieser ungebetenen Hausgenossinnen jeden Winter, indem sie eine Nacht lang Fenster und Türen ihrer Hütte offen stehen ließen und selbst bei den Nachbarn Unterschlupf suchten.

Die Entomophobie – der menschliche Horror vor Insekten – hat die Schaben stets unerbittlich getroffen. Dazu trug vermutlich die Beobachtung bei, daß sich diese Allesfresser auch an Aas und Exkrementen gütlich tun. Ebenso die Erfahrung, daß aus einem Kakerlak schnell Tausende werden können, macht sie nicht sympathischer. Der Kokon, den die weibliche Schabe lange unter ihrem abgeplatteten Hinterteil spazieren trägt, birgt ein bis mehrere Dutzend Eier, aus denen dann die Nymphen schlüpfen. In ihrer Gestalt ähneln die Jungtiere bereits den adulten Insekten, sie sind nur viel kleiner.

Als sich mit der menschlichen Perestroika die Grenzen öffneten, hatte dies eine Überflutung des russischen Marktes mit Dutzenden von Insektengiften aus aller Welt zur Folge. Manche von ihnen, vor allem giftige Kreidestifte und Pulver, sind für den Menschen hochtoxisch oder schädigen Embryos. Im Moskauer Insekteninstitut wurde in den vergangenen Jahren geprüft, welchen dieser Mittel eine staatliche Lizenz erteilt werden könnte.

Stolz zeigt Nina Alexandrowna eine Broschüre, an der sie mitgewirkt hat: „Sanitäre Regeln für die Vernichtung von Insekten und Mücken im Haushalt und in Kellerräumen.“ Dies ist der erste Leitfaden dieser Art in Rußland. Außer BiologInnen aus ihrem Institut haben ChemikerInnen, ToxikologInnen und GenetikerInnen jahrelang daran gearbeitet.

Glücklicherweise kommt der Trend in der modernen Bekämpfung von Haushaltsinsekten Nina Aleschos Neigungen entgegen. An die Stelle des Rundumschlages mit der Chemokeule, bei dem häufig auch eine gesundheitliche Beeinträchtigung des Menschen in Kauf genommen wird, ist der flexible Gifteinsatz getreten – zum Beispiel an möglichen Nistplätzen. Längst halten Spezialisten es für utopisch, die Küchenschaben auszurotten.

Ganz moderne, ganzheitliche Konzepte zielen darauf ab, ihnen das Leben zu vergällen. Das beginnt beim Städtebau und endet beim Mülleimerdesign. Was Nina Alexandrowna Alescho anbetrifft, so bittet sie die Schaben immer um Verzeihung, wenn sie ein paar von ihnen für einen Giftversuch töten muß. „Das ist mein Brot“, sagt sie dann zu ihnen, „ohne dies könnte ich nicht leben.“

Die Wissenschaftlerin schämt sich ihres Verhaltens nicht: „Ich bin längst von einem anthropozentrischen zu einem zoozentrischen Weltbild übergegangen.“ Die Abscheu vor Schaben hat sie sich schon vor einem Vierteljahrhundert selbst ausgetrieben. „Wenn ich mich vor ihnen ekelte, müßte ich verhungern“, sagt Nina Aleaxandrowna in ihrem Labor und kaut genüßlich einen Schokoladenkeks: „Und Kakerlaken kann man auch nicht betrügen. Wenn die sich nicht geliebt fühlen, hören sie auf, sich zu vermehren. Mich aber erkennen meine Täubchen schon an den Schritten. Dann krabbeln sie erwartungsvoll an die Ränder ihrer Gläser.“

Als die Mittel für die Forschung gar nicht mehr flossen, hat Nina Alexandrowna ihre eigenen Lebensmittel mit ihren Zöglingen geteilt: Frischfleisch, Quark und Gemüse – nur Qualitätsware. Schlechte Nahrung verfälsche die Versuchsergebnisse.

Privat hat Nina noch nie einer Schabe einen Fühler gekrümmt. „Wenn sich mal eine in meine Wohnung verirrt, dann werfe ich sie aus dem Fenster und rufe ihr nach: ,Sage den Deinen, daß ich ihren Besuch hier nicht wünsche.‘“ Und fügt lächelnd hinzu: „Die Schaben und ich brauchen einander.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen