: Kaiserin von Kalifornien
Für seine Abwesenheit hat Bundestrainer Jürgen Klinsmann die beste aller Ausreden parat: Er tat’s für Mutti. Das ist keine fadenscheinige Entschuldigung, sondern ein sehr ehrenhaftes Bekenntnis
VON CHRISTIAN SCHNEIDER
Jetzt wissen wir also endlich, was hinter Klinsmanns von allen Seiten mit Kopfschütteln bedachter „Untreue“ gegenüber dem deutschen Fußballbund und -volk steckt: nicht weniger als die größte aller denkbaren Mächte. Die Mutter. Womit er ohne jeden weiteren Kommentar entschuldigt und ihm die absolute Absolution zu erteilen ist. Denn selbst die größten Dickköpfe, Revolutionäre, Staatenlenker und Verbrecher sind macht- und nicht selten hilflos, wenn gebieterisch ein Wunsch der Mutter im Raum steht. Nirgendwo sonst gilt so sehr die Gleichung „Wunsch = Befehl“ wie in diesem Fall.
Von Sigmund Freud, also demjenigen, der uns über die Macht der Ursprünge, unsere ewigen Regressionstendenzen und unbewussten Bindungen belehrt hat, ist das Szenario seines 70. Geburtstags überliefert: Die Schar der Gratulanten wurde von einer kleinen, uralten Dame empfangen, die mit mächtiger Stimme verkündete: „Ich bin die Mutter.“ Womit denn die eigentlichen Machtverhältnisse im Hause Freud geklärt waren. Tatsächlich sind Mütter die absolutesten Machthaber, denen wir jemals im Leben begegnen können. Denn sie erfüllen ihre Rolle zur Zeit unserer absoluten Ohnmacht.
Kurze Zeit im Mutterleib
Der Mensch, der bekanntlich eine – gemessen an den biologischen Daten anderer Säuger – viel zu kurze Zeit im Mutterleib verbringt und deshalb ein, wie der Biologe Adolf Portmann es nannte, „extrauterines Frühjahr“ in der Obhut seiner Pflegepersonen verbringen muss, ist in dieser Phase seines Lebens vollständig von ihnen abhängig.
In allererster Linie eben von der primären Bezugsperson, Ernährerin, Hüterin und dem Liebesobjekt in Personalunion. Der Entzug der mütterlichen Zuwendung bedeutete noch lange Zeit nach der Geburt den sicheren Tod des irdischen Neuankömmlings. Wobei es beileibe nicht nur um die physische Versorgung geht.
Die aufsehenerregenden, heute gewiss als grausam eingestuften Experimente des amerikanischen Primatenforschers Harry F. Harlow – wissenschaftlich überliefert in den Fünfzigerjahren – mit Affenbabys haben gezeigt, dass mit Nahrung durch einen mechanischen Mutterersatz wohl versorgte Äffchen starben, wenn ihnen nicht Wärme und die Möglichkeit der Anklammerung geboten wurden.
Nur wenn es als Mutterersatz neben der Milch spendenden „Drahtmutter“ eine wenigstens Wärme simulierende „Stoffmutter“ gab, in deren „Fell“ sie sich vergraben konnten, hatten sie Überlebenschancen. 1958, auf einem Psychologenkongress, umriss Harlow, ein freudiger Hobbylyriker, das Problem in Versform: „Die Mutter hat nur kurze Arm’ / Doch ihre Haut ist kuschelig-warm / Und dies Gefühl auf Babys Haut / Das Herz, das drinnen schlägt, erbaut.“
Menschen sind natürlich noch fragiler gewirkt als Affen – wie die Fälle von Hospitalismus und Marasmus, im letzten Stadium des Vitalen, beweisen, die regelmäßig auftreten, wenn Babys und Kleinkindern der soziale Kontakt entzogen wird. Mögen Mütter also das Urbild der Liebe darstellen: In jedem einzelnen Fall einer Kindsgeburt muss zunächst etwas klappen, was beim Homo sapiens nicht immer und schon gar nicht automatisch funktioniert. Instinktentbunden, wie wir Menschen sind, ist die „Brutpflege“ durch kein genetisches Programm garantiert.
Die Tod Gebietende
Die gar nicht so seltenen Fälle von Kindstötung und -misshandlung schon im Babyalter sprechen eine grausam klare Sprache. Sie besagt, dass hinter der Imago der Liebe, die wir gewöhnlich mit der Mutter verbinden, eine andere versteckt ist: die der absolut Mächtigen, der über Leben und Tod Gebietenden. Erst als Erwachsene entwickeln wir ein klares Bewusstsein davon – unter anderem deshalb, weil unsere Mütter uns als Säuglingen jene Symbiose mit ihr ermöglichen, durch die wir die reale Ohnmacht in Allmachtsfantasien transformieren können.
Insofern ergeht es uns allen wie dem legendären Reiter über den Bodensee: Im Nachhinein erkennen wir, welche Gefahr am Anfang unseres Lebens gestanden hat, welche potenziell todbringende Macht das erste Objekt unserer Liebe besaß. Man sieht es am umgekehrten Fall: Niemand steht in der Hierarchie der Kriminellen tiefer als der Muttermörder.
Deshalb ein Rat an alle, ob beim DFB, bei Presse, Medien oder sonst wo: Wir sollten es uns mit Mutter Klinsmann nicht verderben und schon gar nicht ihrem Sohn Steine in den Weg legen, wenn er ihren Wünschen nachkommt. Denn nur ein von der ursprünglichsten aller Mächte sanft gepuschter Bundestrainer kann erfolgreich sein.
Ohne Mutti Klinsis Unterstützung jedenfalls können wir den Titel endgültig abschreiben.