: Kaffee, Kirche, Kiez
„Ich bin Wagner – Du bist Deutschland“ (23.00 Uhr, NDR): ein Porträt von „Bild“-Kolumnist Franz Josef Wagner
Benjamin von Stuckrad-Barre weigerte sich in seiner Büchersendung auf MTV einst, den Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner beim Namen zu nennen. Stattdessen bezeichnete er ihn nur als „den hässlichen alten Mann von Seite 2 der Bild-Zeitung“. Damit wäre eigentlich schon alles gesagt über den Mann, der sich von seinem Spitznamen „Gossen-Goethe“ tatsächlich geschmeichelt fühlt – wenn es da nicht dieses Problem gäbe: Es heißt „12 Millionen Leser“. Wenn diese nicht wären, könnte man den hässlichen alten Mann von Seite 2 einfach ignorieren. Denn was er auf der Seite 2 der Bild-Zeitung schreibt, seine tägliche „Post von Wagner“, besteht in der Regel aus ekligem Populismus, völliger Unkenntnis sowie wahlweise opportunistischer Heranschmeiße oder opportunistischer Verdammung. Zur Erinnerung: Dieser Mann denkt allen Ernstes, die Rolle von Andrea Nahles beim Sturz von Franz Müntefering vom SPD-Vorsitz mit „schlecht gefickt“ hinreichend analysiert zu haben.
So gesehen ist es eigentlich nur verständlich, dass SWR-Chefreporter Thomas Leif in seinem halbstündigen Porträt „Ich bin Wagner – Du bist Deutschland“ den hässlichen alten Mann von Seite 2 nicht wirklich ernst nimmt. Mit schmierig-schmissiger Boulevard-Komödien-Musik unterlegt, lässt Leif ihn Banales über seinen Espresso, Dümmliches über seine Kirche und Belangloses über seinen Charlottenburger Kiez sagen. Anfangs baut Leif noch zwei kritische Statements von taz-Chefin Bascha Mika und taz-Wahrheits-Chef Michael Ringel ein, doch dann gibt es nur den hässlichen alten Mann von Seite 2 pur.
Und tatsächlich reicht das zunächst, denn der hässliche alte Mann von Seite 2 demontiert sich ganz beiläufig selbst. Wie er vor dem Gebäude des Axel Springer Verlages steht und verzweifelt den Eingang sucht, der schon vor über zwei Jahren verlegt wurde – traurig. Wie er in seinem Stammlokal, der Paris Bar, immer denselben Platz mit bestem Blick auf die Tür einnimmt, damit er auch ja nicht verpasst, wenn seine Traumfrau hereinspaziert, dann aber nur Friseur-Freund Udo Walz eintritt – sehr traurig.
Und tatsächlich reicht es dann doch nicht, den hässlichen alten Mann von Seite 2 so harmlos darzustellen. Denn wenn Leif zum Ende hin nochmals Kollegen befragt, merkt man, wie gleich geschaltet die deutsche Medienlandschaft in Bezug auf den hässlichen alten Mann von Seite 2 ist: von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo über Quiz-Show-Ensemble-Mitglied Hellmuth Karasek bis zu Filmproduzent Artur Brauner mag keiner ein ernsthaft schlechtes Wort über ihn sagen.
Mit einem Respekt vor dem Privatleben des hässlichen alten Mannes von Seite 2, den sein Arbeitgeber, die Bild-Zeitung, selbst bei Inzestkindern, Todkranken und Selbstmördern nicht kennt, wird sich ausgeschwiegen über Krankheit und private Exzesse. Auch die beruflichen Fehlschläge bleiben unerwähnt – nichts über die versenkten Burda-Millionen bei der Super-Zeitung, nichts über die ramponierte Bunte, nichts über die angeschlagene B.Z.
Zwei Jahre soll sich Wagner geziert haben, bis er dem Film zustimmte. Mit dem Ergebnis kann er jetzt zufrieden sein. HPI