■ KURZESSAY: Der Guerillero als europäische Kultfigur
Der Mythos des lateinamerikanischen Guerillero war eine Neuauflage des aus der Aufklärung stammenden Mythos vom „edlen Wilden“: ein romantisches Identifikationsangebot für zivilisationsmüde Europäer, das mehr psychologisch als politisch motiviert war. Gegenüber den schwer zu durchschauenden Interessenkonflikten und dem langweiligen Parteienproporz einer modernen Industriegesellschaft waren in Lateinamerika — aus der ideologisch getrübten Sicht professioneller Antiimperialisten — die Fronten klar. In der Dritten Welt war die Welt noch in Ordnung; die Guten und die Bösen waren hier schon an der Hautfarbe voneinander zu unterscheiden. Die rechten Todesschwadronen folterten und mordeten, die linken Guerilleros dagegen waren edelmütig, hilfreich und gut; sie töteten nur dann, wenn der Gegner sie dazu zwang. Wie Winnetou und der letzte Mohikaner führten sie einen gerechten Krieg gegen eine auswärtige Übermacht, die im Bunde stand mit korrupten einheimischen Oligarchien. Ausspähen, anschleichen, belauschen, überfallen, gefangennehmen, fesseln usw. — die Methoden des Guerillakrieges waren den Abenteuerromanen von James Fenimore Cooper oder Karl May entlehnt. Es war ein sauberer Krieg, der dem Zuschauer lustvolle Identifizierung erlaubte, kein schmutziger Krieg, den eine moralisch verkommene Supermacht mit Napalmbomben und Entlaubungsmitteln gegen wehrlose Zivilisten führte: Der Feind wurde nicht in Hackfleisch verwandelt, sondern sportlich ausgetrickst. Im Unterschied zu ihren Gegenspielern, senilen Caudillos und bleichen Foltergenerälen, die wie der leibhaftige Tod aussahen, hatten die Guerilleros Jugend und Sex-Appeal für sich gepachtet; die ständige Übung hielt sie fit.
Aus diesen und anderen Elementen wurde Ende der sechziger Jahre der Mythos vom edlen Guerillero geformt. Die das idyllische Bild störende Wirklichkeit wurde von Anfang an aus dem Bewußtsein verdrängt. Der das Image der Guerillero prägende Machismus und Militarismus wurde ebenso ignoriert wie die Tatsache, daß Parteiführer wie Fidel oder Raul Castro oder die Gebrüder Ortega derselben hellhäutigen Oberschicht entstammen wie ihre politischen Widersacher. (Ähnliches gilt für Che Guevara, Ho Chi Minh oder Mao Tse-tung, denen die auf die Herstellung von Legenden spezialisierte Parteigeschichte erst nachträglich eine proletarische bzw. bäuerliche Herkunft angedichtet hat.) Violeta Chamorro, die konservative Präsidentin Nicaraguas, hat einen ihrer Söhne bei der Contra und einen anderen in der Führung der sandinistischen Partei plaziert; was auch immer passiert, die Familie Chamorro bleibt im Vorzimmer der Macht. Umgekehrt waren und sind Schwarze in der kubanischen Revolution ebenso unterrepräsentiert wie in der sandinistischen, von Homosexuellen ganz zu schweigen; auf Kuba bevölkern sie die Gefängnisse, und in Nicaragua wurden die Mesquito-Indianer von der sandinistischen Regierung pauschal zu Konterrevolutinären erklärt. Die Opfer der lateinamerikanischen Guerilla sind nicht die Angehörigen der reichen (weißen) Oberschicht, sondern in der Mehrzahl arme Indios: Campesinos, die zwischen die Fronten des Bürgerkrieges geraten, oder Soldaten, deren Eltern nicht genug Geld haben, um ihre Söhne vom Wehrdienst freizukaufen. „Als wir am Ort des Gefechts vorbeikamen, hatten sich die Leichen der sieben getöteten Soldaten in säuberlich abgenagte Skelette verwandelt; die Geier hatten ganze Arbeit geleistet.“ Dieser Satz aus Che Guevaras bolivianischem Tagebuch läßt an zynischer Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig.
Daß die linken Guerilleros in der Wahl ihrer Mittel keineswegs zimperlich sind und daß sie sich von rechten Todesschwadronen weniger durch ihre Methoden als vielmehr durch die ideologische Begründung unterscheiden (und oft nicht einmal das), wurde und wird von ihren Anhängern schamhaft verschwiegen. Sie foltern und morden (natürlich nur widerwillig, wenn „der Gegner sie dazu zwingt“) und begehen Massaker — bis hin zum Völkermord des Roten Khmer in Kambodscha. Ähnlich wie ihre Gegner in Polizei und Armee arbeiten sie mit Drogenhändlern und gewöhnlichen Kriminellen zusammen, denen sie, als Gegenleistung für Waffen oder Geld, logistische Unterstützung und militärischen Schutz gewähren. Auch die Tatsache, daß das Fußvolk nicht aus lauter Freiwilligen besteht, die aus Idealismus der Guerilla beigetreten sind, sondern aus Straßenkindern und Campesinos, die mit Geld geködert oder gegen ihren Willen zwangsrekrutiert worden sind, hat sich in Unterstützerkreisen nicht herumgesprochen.
Der guatemaltekische Schriftsteller Hugo Arce beschrieb kürzlich, wie sein bester Freund vor zehn Jahren in die Berge ging, um sich dem bewaffneten Widerstand gegen ein korruptes Regime anzuschließen, das die verfassungsmäßigen Rechte und Freiheiten außer Kraft gesetzt hatte. Vorausgegangen waren nächtelange philosophisch-politische Diskussionen, in denen mit dostojewskischer Leidenschaft über das moralische Für und Wider einer solchen existentiellen Entscheidung gestritten worden war. „Damals“, schreibt Hugo Arce, „glaubte ich zu wissen, wer wen warum entführte, folterte oder ermordete. Eine imaginäre Linie trennte diejenigen, die starben, von denjenigen, die mordeten. Der Tod in Guatemala hatte einen Namen und eine Adresse. Diese Linie, die Gut und Böse voneinander trennt, existert heute nicht mehr. Das Opfer meines Freundes war umsonst. Heute ist Guatemala allein mit seinen Toten, seinen Verschwundenen und einem stummen Krieg, der seine Eingeweide zerfrißt.“
Ich weiß nicht, ob ich die Worte von Hugo Arce richtig interpretiere, aber mir scheint, er spricht von einer Erfahrung, die wir ähnlich auch in der Bundesrepublik machen konnten, wo die meisten Parolen, an die die Nach-68er-Generation geglaubt hat, über Nacht falsch geworden sind. Die von Europa ausgehende Erosion der marxistischen Idologie macht auch vor der Dritten Welt nicht halt. Der bewaffnete Kampf als revolutionäre Strategie hat in Lateinamerika ausgespielt, und zwar nicht etwa, weil die Guerillabewegungen militärisch besiegt worden sind — das ist genauso unmöglich wie der Traum des Staatsschutzes von der Zerschlagung der RAF —, sondern weil der diesen Kampf begleitende und rechtfertigende Diskurs seine politische Glaubwürdigkeit verloren hat. Der Demokratisierungsprozeß, der nach Osteuropa auch Lateinamerika erfaßt hat, nimmt den Guerilleros den Wind aus den Segeln. Die Klügeren unter ihnen haben sich deshalb mit ihren Todfeinden von gestern an den Verhandlungstisch gesetzt; die Klügsten haben die Waffen niedergelegt und sich in politische Parteien verwandelt wie die M-19 in Kolumbien, der bei den Präsidentschaftwahlen gute Chancen gegeben werden. Andere bomben weiter wie die kolumbianische ELN, die jede Woche eine Öl-Pipeline in die Luft sprengt (und damit jedesmal eine Umweltkatastrophe verursacht), um den Preis für einen Waffenstillstand in die Höhe zu treiben, oder einfach nur, um zu beweisen, daß es sie noch gibt. „Sie wollen ihre Präsenz demonstrieren“, sagte mir kürzlich achselzuckend ein peruanischer Freund, als in Miraflores, einem Stadtteil von Lima, nach einer Serie von Detonationen wieder einmal die Lichter ausgingen. „Irgendwie muß der Sendero Luminoso seine Leute ja beschäftigen.“
Die lateinamerikanische Guerilla befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie ein unrentabler Betrieb in der ehemaligen DDR, dessen Belegschaft kurz vor der Stillegung in den Streik tritt, um einen besseren Sozialplan zu erzwingen. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie der Abwicklung. Wohin mit den Guerilleros? Außer Schießen und Bombenlegen haben sie nichts gelernt. Mit ihrem technischen Know-how wären sie am besten beim Zoll oder der Polizei aufgehoben. Aber es wird noch eine Menge Wasser den Pazifik herabfließen, bevor die Contras in die sandinistische Armee eintreten, die ELN das Heer der Drogenfahnder verstärkt und der Sendero Luminoso Seite an Seite mit der peruanischen Armee die Cholera bekämpft. Hans Christoph Buch
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