KOMMENTARE: Leipzig und Bonn
■ Trotz Parteienstreits bleibt die Gemeinsamkeit im Versagen
Wenn politische Rechthaber und Beschuldigungsstrategen sich gegenseitig beschwören, Rechthaberei und Beschuldigungen nun fallen zu lassen, dann ist der Zustand der Panik schon weit gediehen. Panik ist es, was jetzt aus Bonn zu hören ist. Das Spiel mit der großen Koalition, Engholms Forderung nach Neuwahlen, die Bekundungen zur überparteilichen Kooperation, der Ruf nach der konzertierten Aktion: die Vereinigungsartisten in der Zirkuskuppel sind ratlos. Der Osten hat sie eingeholt, unser Leipzig droht uns heute. Mit anderen Worten, die politische Klasse in Bonn ist am Ende ihres Lateins und macht es dringlich. Dabei hören die Vorwürfe nicht auf. Die CDU wirft der SPD vor, sie profitiere von der Krise in der Ex-DDR. Richtig, genau das versucht sie, selbstverständlich in bester Absicht. Wenn Vogel sich gestern bescheiden und solidarisch unter die Leipziger Demonstranten mischte, dann versprach er bestenfalls, oder schlimmstenfalls, etwas, was Kohl vor der Wahl im März 1990 in Dresden, Chemnitz und Leipzig versprach: eine Ausnahme von der kapitalistischen Logik speziell für die Ostdeutschen. Die Vorwürfe gegenüber Kohls Versprechungen im letzten Frühjahr oder gegen seine „Steuerlüge“ sind heuchlerisch, wenn suggeriert wird — wie die SPD es tut —, es habe politische Alternativen gegeben; er habe etwas versprochen, für das andere die richtige Politik gehabt hätten. Nein, er hat etwas versprochen, was er nicht versprechen konnte: eine weiche, „sozialverträgliche“ Unterwerfung der sozialistischen Wirtschaft unter den Kapitalismus.
Die Wahrheit, daß die sozialistische Kombinatswirtschaft nach der Logik ihrer Geschichte nicht konkurrenzfähig ist, daß ganze Industriestandorte, daß die halbe Landwirtschaft nicht überlebensfähig ist, ist ein ganzes Jahr lang von der Politik weggeschoben worden. Von den Menschen aber wurde sie erlebt, Schritt für Schritt, von einer Hoffnungslosigkeit zur nächsten. Es fehlte nicht so sehr an Konzepten, sondern an Realitätsbewußtsein. Das ganze marxistisch geschulte DDR-Volk mußte erleben, daß es der kapitalistischen Realität so naiv gegenübersteht wie eine Nonnenschülerin dem Bahnhofsstrich. Aber auch die politische Klasse Bonns hat sich offenbar über die Realität der freien Marktwirtschaft getäuscht. Nicht nur Arbeitslosigkeit überfällt darum die Leute, sondern auch ein blindes Schicksal. Wäre die Härte der neuen Realität im politischen Bewußtsein gewesen, wäre wenigstens die Chance auf menschliche Solidarität größer gewesen. Das Bedrohliche ist, daß in Leipzig nicht so sehr Arbeitslose gegen die Arbeitslosigkeit demonstrieren, sondern vor allem Betrogene gegen ihren Jammer. Zwischen Betrogenen ist Solidarität nur schwer denkbar, und das Mitgefühl für sie ist gering. Klaus Hartung
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