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KOMMENTAREUnheilbar — mausetot

■ Erstmals steht ein großer kommerzieller Druckwasserreaktor vor dem vorzeitigen Aus

Ein Gespenst ging um in Rheinland-Pfalz und über die Landesgrenzen hinaus. Das Gespenst der „Kalkarisierung“. Dem Atommeiler am Mittelrhein, so fürchteten Betreiber und einschlägige Zunft, könnte nach dem Regierungswechsel in Mainz und einer erneuten Schlappe vor Gericht das gleiche Schicksal blühen wie dem Schnellen Brüter am Niederrhein. Den hatte vor zwei Monaten eine sozialdemokratische Landesregierung nach jahrelangem Ringen „nach Recht und Gesetz“ zu Tode geprüft.

Der frischgebackenen rheinland-pfälzischen Umweltministerin, Klaudia Martini, wurden ähnliche Ambitionen in Mülheim-Kärlich unterstellt. Doch es kam noch besser: Wenn nicht alles täuscht, haben die Richter, 1988 die des Bundesverwaltungsgerichts in Berlin und nun die Kollegen vom Oberverwaltungsgericht Koblenz, der neuen Landesregierung die Mühen endloser Gutachter- und Juristenscharmützel abgenommen. Der erste kommerzielle Druckwasserreaktor der Bundesrepublik scheint auch ohne die Methode der „Kalkarisierung“ mausetot — „unheilbar“ wie die Juristen sagen.

Der ebenso große wie späte Erfolg der Gegner des Projekts war möglich, weil zu Urzeiten der Auseinandersetzung um die Atomenergie Betreiber und Genehmigungsbehörden in schöner Eintracht versucht hatten, sich alle kritischen Stimmen mit plumpen juristischen Winkelzügen vom Leib zu halten. Pikanterie am Rande: Jene faulen Tricks, die den Meiler nun zur Ruine machen, fallen just in die Mainzer Regentschaft unseres Oggersheimer Kanzlers. Seine Nachfolger setzten die Tradition fort, als sie den Warnschuß aus Berlin 1988 unter der Rubrik „formaler Verfahrensfehler“ abbuchten. Sie weigerten sich schlicht, den inzwischen technisch veralteten Meiler neu zu bewerten. Die Rechnung wurde gestern präsentiert. Ohne Wermutstropfen für die Regierung Scharping bleibt das Signal aus Koblenz dennoch nicht. Der Mülheim-Kärlich-Betreiber RWE, fast zwei Jahrzehnte lang meistbegünstigt durch die Mainzer Atomfreunde und dennoch gescheitert, wird nicht zögern, die sozial-liberalen Nachfolger für die Fehler ihrer Vorgänger haftbar zu machen. Und das kann teuer werden.

Das Aus für ein Atomkraftwerk, das den heute hierzulande erreichten Sicherheitsstandards nach allgemeiner Überzeugung nicht mehr genügt hätte, ist an sich schon Grund genug zur Freude. Doch die frohe Nachricht weist über Mülheim-Kärlich weit hinaus. Bis gestern galt es als nahezu unmöglich, kommerzielle Reaktoren wieder auszuknipsen, wenn sie einmal am Netz waren. Insofern könnte der 24. Mai 1991 später als historischer Durchbruch in der Anti-AKW-Geschichte notiert werden. Wackersdorf, Hamm, Kalkar, Mülheim-Kärlich, die Liste der Atomruinen wird länger. Übernächste Woche entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über das AKW Obrigheim. Gerd Rosenkranz

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