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KOMMENTAREEpochen-Bruch

■ Der jugoslawische Konflikt zeigt: Interventionen im Völkerrecht werden nötig

Wahrscheinlich ist es kein Zufall, daß die meistzitierten politischen Merksätze unserer Tage sich anhören wie Bauernweisheiten. Und wahrscheinlich ist es auch kein Zufall, daß sie sich auf ein Ereignis beziehen, das eindeutig einen epochalen Bruch markiert, wie bewußt oder unbewußt herbeigeführt auch immer: die deutsche Einigung. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, teilte Michail Gorbatschow uns im Oktober 1989 mit, und kurze Zeit später erkannte Willy Brandt: „Nichts bleibt, wie es war.“ Das sind Warnungen, und zwar keine, die das Einmauern, den Dammbau und dergleichen konservative Sicherheitsmaßnahmen nahelegen, sondern die auffordern zum neuen Denken. Wertewandel ist angesagt, also überprüfen wir unser Repertoire.

Nichteinmischung, das galt uns als Ausdruck zivilisatorischen Fortschritts, jedenfalls in der Arena internationaler Politik, eine Absage an antikommunistische Roll-back-Strategien und neoimperialistische Hegemoniepolitik der Supermächte oder ihrer Stellvertreter. Stabilität war der Leitgedanke der Schlußakte von Helsinki, „Wandel durch Annäherung“ wirkte eher durch die subversive Kraft medialer Bilder als durch reale Außenpolitik. Was wunder, daß der Doppelknoten von Nichteinmischung und gegenseitiger Anerkennung — der jeweiligen staatlichen Souveränität und der jeweiligen Blockzugehörigkeit — insbesondere zwischenstaatlicher Politik ein übersichtliches Feld sicherte. Gesellschaftliche Veränderungen erhielten bei dieser Konstruktion eher den Charakter von Störfällen — das erlebten zuerst die Polen, das erleben heute die Slowenen und Kroaten. Seit die Solidarność im Herbst 1980 streikte, haben nicht nur politische Parteien wie die SPD immer wieder die Peinlichkeit erfahren müssen, mit dem eigentlich propagierten Internationalismus demokratischer Bewegungen auch in der Schlußakte von Helsinki beschworene Menschenrechte dem Stabilitätsgedanken zu opfern. Zudem setzten sie mit der Unterstützung staatlicher Machthalter auf das falsche Pferd.

Seit 1980 hat sich die KSZE-Welt rasant verändert. Ganz vorsichtig hat die KSZE-Konferenz dieses Jahres mit dem „Krisenmechanismus“ eine Antwort darauf versucht. Einmischung ist nicht mehr mit einem Tabu belegt. Aber immer wird an ein Eingreifen erst gedacht, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Dem Grundgedanken der KSZE, Gewalt als Mittel internationaler Politik auszuschalten, kann nur der Charakter einer schönen Illusion genommen werden, wenn Einmischung zum handlungsleitenden Prinzip avanciert. Und das kann nur heißen, früh einzugreifen. Der neue „Krisenmechanismus“ hätte schon auf der Berliner Konferenz beschlossen werden sollen.

Ebenso unbefriedigend der Zeitplan der EG: der Stolz der luxemburgischen Präsidentschaft, eine Dreimonatsfrist der Spannungsdämpfung erreicht zu haben, dauerte gerade einen Rückflug lang. Was wunder vor dem Hintergrund einer Politik der Gemeinschaft, die sich angesichts des Endes der Blockkonfrontation und der damit in Europa stattfindenden Veränderungen krampfhaft an den Fahrplan für 1992 hält. Bei der Alternative „Erweitern oder Vertiefen“ haben sich offensichtlich bisher in der EG die Positionen derjenigen durchgesetzt, die die alte EG absichern wollen — Stabilität am Rand wird dann vordringlich, statt differenzierter Assoziationsangebote greift ein Glacis-Denken Platz: das Vorfeld soll übersichtlich sein, also wird die Belgrader Zentralregierung gestützt. Von den Kleinen — in diesem Fall Slowenien und Kroatien — gab es Ansprüche an Brüssel, wollte man Rückmeldung und Einflußnahme. Pikanterweise war es wiederum der luxemburgischen Präsidentschaft vorbehalten, die Slowenen vor „den Problemen kleiner Staaten“ zu warnen. Wieder müssen wir umdenken: eine hegemoniale Struktur wie die EG hat in jedem Fall Einfluß, Verzicht darauf ist gar nicht möglich. Die EG — während des Golfkrieges kritische Begleiterin des US-Krisenmanagements — muß nun selber zeigen, ob sie an ihrem Rand ein Massaker verhindern kann. „What ever they do, it's fine with us“, hat Präsident Bush gesagt und ist dann in seinen Hubschrauber nach Maine gestiegen.

Einmischung war also unsere Forderung bis hierher. Aber die braucht Inhalte. In einer Welt im Wandel stehen die nicht einfach fest. Worauf also sich beziehen? Das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ ist und bleibt ohne Zweifel ein Eckstein. Aber da ist von einem Plural die Rede, und nicht ohne Grund könnte der Fall Jugoslawien ein Experimentierfeld dafür eröffnen, wie das heute progressiv interpretiert werden kann, das Recht der Ethnien auf Differenz im Blick, aber die automatische Lösung Nationalstaat skeptisch auf Abstand haltend. Georgia Tornow

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