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KOMMENTAREDie Arbeitgeber müssen über die Hürde!

■ Das neue Angebot, unterbreitet, um die Streikbewegung im öffentlichen Dienst zu schwächen, ist dennoch ein erster Erfolg für die Gewerkschaften

Ab heute um 18 Uhr wird im Tarifkonflikt des öffentlichen Dienstes wieder verhandelt. Daß die Arbeitgeber sich zu diesem Termin mit einem nach eigenen Angaben „verbesserten Angebot“ einfinden, ist allein schon ein Erfolg der massiven Streiks, die von der ÖTV und den anderen Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes in dieser Woche noch verschärft worden sind. Nach dem relativ schmerzlosen Auftakt in der letzten Woche hat die ÖTV in dieser Woche erstmals ihre wirkliche Kraft sichtbar werden lassen. Das hat ganz offensichtlich auf die Strategen in der Bundesregierung, allen voran Kanzler Kohl, ernüchternd gewirkt. Denn die hatten sich darauf verlassen, daß der Streik im öffentlichen Dienst mit all seinen lästigen Erschwernissen für die Bürgerinnen und Bürger unpopulär sein und die Menschen so gegen die Gewerkschaften aufbringen werde, daß diese schon nach kurzer Zeit zurückstecken müßten.

Die Kalkulation der öffentlichen Arbeitgeber ist bisher offensichtlich nicht aufgegangen, jedenfalls in den vom Tarifkonflikt unmittelbar betroffenen westlichen Bundesländern. Im Gegenteil: Der Streik ist so populär wie kaum jemals einer zuvor. Schon in der Auseinandersetzung bei den Banken hatte sich gezeigt, daß es in der westdeutschen Bevölkerung derzeit eine tiefsitzende soziale Unzufriedenheit und Verunsicherung gegenüber der herrschenden Politik und den allgemeinen Zukunftsaussichten gibt, die sich in den Streiks Luft machen. Die Arbeitskämpfe dieses Jahres werden von einem Grundmotiv getragen: der Sorge um die Stabilität der sozialen Verhältnisse, der Empörung über die einseitige Verteilung sozialer Lasten im Zusammenhang mit der deutschen Einheit. Wer den Reichen Steuerentlastungs-Leckerbissen serviert, muß sich nicht wundern, wenn die weniger Reichen auf Sparappelle allergisch reagieren. Da können die Ökonomen hundertmal vorrechnen, daß es angesichts der immensen Finanzierungsbedürfnisse in den neuen Ländern auf die mittleren und unteren Masseneinkommen ankommt. Die Chance, mit Erfolg an die Opferbereitschaft der kleinen Leute in Westdeutschland zu appellieren, ist von der Regierung Kohl in den vergangenen zwei Jahren systematisch verspielt worden.

Die Rechnung dafür wird den öffentlichen Arbeitgebern in dieser Tarifrunde präsentiert. Sie brauchen sich keine Hoffnung darauf zu machen, die Gemüter der Beschäftigten im öffentlichen Dienst mit einem modifizierten Angebot zu beruhigen, das aber im Gesamtumfang nicht über die bisher angebotenen 4,8 Prozent hinausgeht. Sie haben — wie man inzwischen weiß, unter direkter Anleitung des Bundeskanzlers — die Menschen durch ihre monatelange gegen die gewerkschaftlichen Forderungen gerichtete Kampagne erst auf die Barrikaden getrieben. Sie haben mit einseitig verfügten Einkommensanhebungen versucht, die Praxis freier, gleichberechtigter Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften auszuhebeln und die Gewerkschaften ihrer Basis zu entfremden. All diese Provokationen aber haben nur das Gegenteil bewirkt. Und schon bald werden die Arbeitgeber froh sein, daß es die Gewerkschaften gibt, die mit Mühe ihre Leute aus den Streiklokalen wieder an den Arbeitsplatz führen wird.

Jetzt also ein neues Angebot der Arbeitgeber. Es wird für die unteren Lohngruppen höhere Prozentzahlen aufweisen als für die oberen — ein im Prinzip vernünftiges Vorgehen, das innergewerkschaftlich seit Jahrzehnten immer wieder gefordert, aber von der kampfstarken gewerkschaftlichen Stammklientel genauso oft abgebügelt wurde. So auch in diesem Jahr. Die politische Schwäche der Gewerkschaft liegt nicht in der Höhe ihrer Forderung. Da hat sie mit der Annahme des Schlichterspruchs von 5,5 Prozent längst gezeigt, daß ihre Erwartungen realistisch sind und sich am Durchsetzbaren orientieren. Daran wird sich auch dann nichts geändert haben, wenn sie nun sagt, sie streike wieder für ihre ursprüngliche Forderung von 9,5 Prozent. Die eigentliche gewerkschaftliche Schwachstelle ist im Mechanismus der Willensbildung zu finden, der zur Aufstellung der Forderungen führt. Es handelt sich hier um Methoden, die ganz offensichtlich die Disparitäten und Spaltungen zwischen den verschiedenen Beschäftigtengruppen vertiefen. Sie sind nicht nur in der Öffentlichkeit schwer vermittelbar, sondern schwächen auch langfristig die Fähigkeit, unterschiedliche Mitgliederinteressen zu gemeinsamen Forderungen zu bündeln.

Wenn die Arbeitgeber nun ein gestaffeltes Angebot mit überproportionaler Anhebung für die unteren Lohn- und Gehaltsgruppen vorlegen, zielt das natürlich darauf, die Sympathien für die gewerkschaftliche Forderung zu spalten und die Beschäftigten der höheren Lohn- und Gehaltsgruppen gegen die Gewerkschaften aufzubringen. Die werden dem nur entgegenwirken können, wenn sie auch für diese Gruppen ein Ergebnis erzielen, das nicht als klare Reallohnsenkung empfunden werden muß. Ob dieses Ergebnis in Form eines Sockel- oder eines „Kappungsbetrages“ erreicht wird, ist letztlich weniger entscheidend als die Tatsache, daß es mit einem Abschluß unter dem Gesamtniveau des Schlichterspruchs kaum erreicht werden, also für die Gewerkschaften nicht akzeptabel sein kann. Deshalb wird die heutige Verhandlungsrunde den Arbeitskampf nur dann beenden können, wenn die Arbeitgeber sich bequemen, über die Hürde des Schlichterspruchs zu springen. Martin Kempe

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