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KOMMENTAREEnde der strategischen Parität

■ Bush und Jelzin vereinbarten ein Abkommen über die Reduzierung der Atomwaffen

Beispiellos nannte Boris Jelzin das zwischen ihm und Bush ausgehandelte Abrüstungsabkommen. Wenn es denn unterschrieben wird, hat er mit dieser Wertung eher noch untertrieben. Seit die USA 1944 die erste Atombombe zündeten, war Männern wie Robert Oppenheimer oder Niels Bohr klar, daß die Welt sich auf einen atomaren Rüstungswettlauf zubewegt. Seit Kriegsende haben sowjetische Techniker versucht, den atomartechnischen Vorsprung der USA auszugleichen. Abschreckung auf der Basis strategischer Parität war die Zauberformel der Außenpolitik über mehr als zwei Jahrzehnte hinweg. Ausgehend von dieser Formel entwickelte sich eine Atomtheologie mit der dazugehörigen Priesterschaft, die alle früheren Spitzfindigkeiten der Scholastik in die moderne Variante von Waffenmix, Erst- und Zweitschlagskapazität, Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen übertrug und ohne jeden Skrupel die wechselseitigen Leichenberge hochrechnete.

Erst wenn man sich diese Glaubensdebatten zur Rettung vor dem Untergang in Erinnerung ruft, kann man wirklich ermessen, was es bedeutet, wenn Jelzin nun offiziell das Ende der strategischen Parität verkündet. Damit wird nicht nur die Anzahl von Atomsprengköpfen reduziert. Es wird auch eine Denkschule zu Grabe getragen, die die Weltaußenpolitik 30 Jahre lang geprägt hat. Dennoch ist es nicht der Sieg der reinen Vernunft. Rußland steht mit dem Rücken zur Wand, und Boris Jelzin weiß, daß er nun endlich mit der Parole „Butter statt Kanonen“ ernst machen muß. Selbst wenn Rußland mit der Zustimmung der USA einen Drittel seiner landgestützten Interkontinentalraketen hätte behalten dürfen, fehlt doch das Geld für Erhalt, Modernisierung und Ausbau der Nuklearstreitmacht. So machte Jelzin auch gute Miene zum schlechten Spiel, wenngleich ihm ein echtes Umdenken auch nicht abgesprochen werden kann.

Das gilt für die USA bisher nicht. Bush setzte gegen den ehemaligen Gegner, der jetzt so dringend auf Unterstützung angewiesen ist, die völlige Verschrottung der schweren Interkontinentalraketen durch, ohne es ihm gleichzutun. Auch nach einer Halbierung der Sprengköpfe auf den Atom-U-Booten besitzen die USA eine eindeutige strategische Überlegenheit. Zwar ist die jetzt angestrebte Verschrottung von Atomsprengköpfen rein quantitativ enorm, die USA bleiben aber bei ihrer militärpolitischen Doktrin, jeden potentiellen Gegner atomar in Schach halten zu wollen. Früher oder später wird diese Politik wieder dazu führen, daß ein anderer Konkurrent die atomare Herausforderung annimmt. Jürgen Gottschlich

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