KOMMENTARE: Eine Chance zum Nachdenken
■ Honeckers Krebsleiden und die Entscheidungsfreiheit der Justiz
Man stelle sich vor: Honecker, mit Hilfe der Sowjetunion entwischt, mit Hilfe Rußlands nach Moabit expediert, um dann mit Hilfe eines — wie auch immer — betrüblichen Attestes doch noch nach Chile, zu Margot, Sonja und all den Lieben zu entfleuchen. Die Farce wäre komplett, die Bonner Blamage dem Engagement angemessen, mit dem man den sturen Greis unter den Augen der Weltöffentlichkeit aus seinem Moskauer Asyl holte.
Doch weil die endgültige Freilassung des früheren DDR-Chefs nach all der diplomatischen Mühe mit einem peinlichen Gesichtsverlust verbunden wäre, stehen die Chancen nicht allzu gut, daß das Gericht den Anträgen der Verteidigung stattgibt, den Haftbefehl aufhebt und das mit immensem Aufwand betriebene Verfahren am Ende doch nicht eröffnet.
Die Verführung ist groß, weiter hart zu bleiben, der point of no return scheint ohnehin längst überschritten, gerade weil jetzt Stück für Stück die zwielichtigen Hintergründe von Honeckers Rückführung an den Tag kommen. Man könnte böse spekulieren, wie detailliert Bonn über die Tricks informiert war, mit denen Moskau die chilenische Regierung dazu brachte, den Ex-Staatschef vor die Tür ihrer Botschaft zu setzen. Doch selbst wenn die deutsche Seite nicht wußte, daß Honeckers lebensbedrohliche Krankheit in Moskau erst diagnostiziert und dann vertuscht wurde, trägt Bonn zumindest Mitverantwortung. Denn erst der deutsche Druck produzierte den Moskauer Zwiespalt, Gesicht wahren und dennoch der Bonner Forderung nachgeben zu wollen — ein Entscheidungskonflikt, der sich erst auflöste, als man Honecker kurzerhand beste Gesundheit bescheinigte. Das Moskauer Gemauschel — ein Stück neuer deutscher Außenpolitik.
Um so schwieriger wird es jetzt für das Berliner Landgericht, eine unabhängige Entscheidung zu treffen. Denn alle sachlichen Erwägungen scheinen mittlerweile vom politischen Erwartungsdruck durchsetzt, Honecker den Prozeß zu machen — selbst auf das Risiko hin, daß die rechtsstaatlichen Prinzipien verletzt werden, in deren Namen man das Verfahren gegen ihn betreibt. Doch Honeckers schwere Erkrankung bietet noch einmal die Chance, mit einer humanen Entscheidung zugleich den Anspruch einer strafrechtlichen Aufarbeitung politischen Unrechts zu überdenken. Diese Freiheit sollte sich das Gericht nicht beschneiden lassen, allen Alpträumen bundesdeutscher Politiker — Honecker im fernen Chile — zum Trotz. Matthias Geis
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen