KOMMENTARE: Wie man Öffentlichkeit reaktioniert
■ Ein aktueller Wochenplan für die deutsche Kotztüte
Samstag, 22.8.92: In Deutschland finden in der Nacht Mordanschläge auf AsylbewerberInnen statt — angekündigt, wohlorganisiert und von begeisterten Schaulustigen begleitet.
Sonntag: Die Polizei reagiert weiterhin nicht: die Mordanschläge werden fortgesetzt.
Montag: Die PolitikerInnen nutzen die Gunst der Tage, das Grundrecht auf Asyl in Frage zu stellen, denn das Wahlvolk ist ausländerüberlastet.
Dienstag: Politisch und personell findet eine Reaktion auf die Anschläge nicht statt. Innenminister und Polizeichef bleiben gern im Amt.
Mittwoch: Die RepräsentantInnen der Öffentlichkeit verzichten weiterhin auf eine Geste der Scham und der politischen Zurechtweisung.
Donnerstag: Nach kleineren Kundgebungen gegen die Gewalt gegen Ausländer in einigen deutschen Städten rufen verschiedene Gruppen zu einer Großdemonstration in Rostock auf. Die Regierungsparteien halten es nicht für erforderlich, die Demonstration zu unterstützen.
Freitag: Die Marginalisierung der Anti-Rassismus-Demonstration zeigt die ersten Folgen: Die Polizei spricht von geplanten Krawallen der linken autonomen Szene. Die Stadt Rostock begrüßt die Kundgebung nicht, sondern zeigt sich besorgt. Die Presse schließt sich der Besorgnis an. Die Unentschiedenen fahren nicht. In der Nacht auf Samstag folgen weitere Anschläge (Brandlegungen, Steinwürfe auf die Insassen) auf AsylbewerberInnenheime in Stendal, Oschersleben, Lübbenau, Potsdam-Babelsberg.
Samstag: Die im Vorfeld durch das Zusammenspiel von Parteipolitik, Polizei und Presse zur Radikalenversammlung gemachte Demonstration verläuft „wider Erwarten friedlich“. Ihre TeilnehmerInnen werden durch die Polizei schikaniert. Rassistische Attacken auf AsylbewerberInnen finden unterdessen in Eisenhüttenstadt, Dessau, Wittenberge, Cottbus, Greifswald, Schwerin, Wismar, Zielitz, Stendal und Bad Lauterberg statt. In Leipzig wird das Zeltlager für AsylbewerberInnen niedergebrannt, in Augsburg wird auf ein Asylbewerberheim geschossen.
Sonntag: Die Presse zeigt Erleichterung über den friedlichen Verlauf der Radikalendemonstration. „Ein Hoffnungszeichen“ ist für die FAZ die „parlamentarische Normalität“ in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Journalist der Süddeutschen Zeitung bestreitet im „Presseclub“ Rassismus als Motiv der „Ausschreitungen“: Hier machten sich lediglich die sozial Deklassierten Luft. Die Große Koalition für die Änderung von Artikel 16 des Grundgesetzes ist komplett. Eine aktuelle Infas- Umfrage meldet: Die Bereitschaft, „eine Partei rechts von CDU/CSU zu wählen“, ist in den neuen Bundesländern seit März von 8 auf 12 Prozent gestiegen, in den alten Ländern im selben Zeitraum von 12 auf 19 Prozent.
Gebrauchsanweisung: Zur Verhinderung demokratischer, antirassistischer und rechtsstaatlicher Öffentlichkeit vertraue man getrost auf das Zusammenwirken von Polizei, Politik und Presse. Es gelingt der P-3 garantiert. Elke Schmitter
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