KOMMENTARE: Zeit des Dialogs — Zeit der Konfrontation
■ Die Versäumnisse der Deutschen beim Debattieren über sich selbst rächen sich nun
Selbstverständigung der Deutschen — über ihre Vergangenheit, darüber, wie sie künftig leben wollen — Norbert Elias hat sie 1977 vergeblich eingeklagt. Was nach 1945 unterblieb, vielleicht unterbleiben mußte, hätte 1989 endlich eingelöst werden können: eine öffentliche, die Gesellschaft ergreifende Debatte der Deutschen über sich selbst. Die Bestandsaufnahme, die die Machtelite der BRD dieser Debatte hätte vorgeben müssen, wäre zu dem Ergebnis gekommen, daß Umverteilungen größten Ausmaßes notwendig wären, um die Einheit zu meistern und den nachsozialistischen Gesellschaften des Ostens auf die Beine zu helfen. Aus Bonn hörten wir zu diesem Thema außer billigem Triumphalismus, außer der organizistischen Metapher vom Zusammenwachsen dessen, was zusammengehöre, außer der Beruhigungsformel „ein vereintes Deutschland in einem vereinten Europa“ — nichts Nennenswertes. Indessen schwieg die demokratische Linke, beleidigt über die jähe, von ihr weder vorausgesehene noch gebilligte geschichtliche Wende — oder sie ängstigte sich. Warnungen vor Großdeutschland mischten sich mit einem merkwürdigen Kult der „zivilisatorischen Errungenschaften“ im westlichen Deutschland, die jetzt zum Opfer der Gier wie auch der vordemokratischen Verhaltensweisen unserer neuen Mitbewohner werden würden. Auch die Auseinandersetzungen über die „multikulturelle Gesellschaft“, Mitte der 80er Jahre von den Grün-Alternativen und Wertkonservativen initiiert, konzentrierten sich nicht auf die durch die Vereinigung hervorgerufenen Probleme. Sie malten am Bild der vielfarbigen (westlichen) Metropole, während im Osten bereits Jagd auf die vietnamesischen und mosambikanischen Kontraktarbeiter gemacht wurde.
Vielleicht war es naiv, vielleicht zu sehr an der Idee vom herrschaftsfreien Dialog orientiert, von einer „großen Aussprache“ aufklärerische Wirkungen hinsichtlich unseres Verhältnisses zu den ausländischen Arbeitern und den Asylsuchenden zu erwarten. Eins aber hätte eine solche Debatte mit Sicherheit erbracht: Die dumpfe, jedem Argument unzugängliche Schubkraft der Angst vor dem Fremden wäre gebremst worden. Eindeutige politische Positionsbestimmungen wie zum Beispiel die Forderung, Deutschland zum Einwanderungsland zu machen, hätten die Hemmschwelle für rechtsradikale Bekenntnisse angehoben. Denn auch und gerade die aggressiven Ausländerhasser sind konformistisch, wagen sich nur schwer über die Grenzen dessen, was, über die Medien und autoritative Persönlichkeiten, als zum guten Ton gehörig festgelegt wird.
Gegenwärtig erleben wir den vollständigen Zusammenbruch dieser Hemmschwelle. Wem über mehrere Jahre suggeriert wird, das Schicksal Deutschlands entscheide sich daran, ob der Asylartikel des Grundgesetzes aufgehoben wird, der glaubt sich bei rassistischen Äußerungen und Aktionen durch die an der Macht befindliche Elite gedeckt. In solchen Augenblicken hätten symbolische Aktionen von Politikern, die selbst in reaktionären Milieus respektiert werden, eine außerordentliche Bedeutung gehabt. Daß weder von Weizsäcker noch Biedenkopf, noch Rita Süssmuth den Mut und die Energie aufbrachten — und sei es nur vorübergehend —, in einem Flüchtlingsheim Quartier zu beziehen, macht die Katastrophe perfekt. Binnen drei Wochen werden schwere Brandstiftung und versuchter Mord zu einem Freizeitvergnügen, dem sich Kids ab dem 15. Lebensjahr widmen, entschuldigt von den Eltern, den Freunden, einer Legion von Politikern, die die Opfer zu den eigentlichen Tätern stempeln. Pogrome werden im Fernsehen, um Henryk Broder zu zitieren, en suite gespielt, und wer einen Rom anzünden wollte, kann abends vor Freunden das Gefühl seiner medialen Bedeutung auskosten.
Während Deutschland von einer Welle des Terrors überzogen wird, wie sie sich in diesem Jahrhundert nur zweimal, in den frühen zwanziger Jahren und dann vor und nach der Machtergreifung der Nazis, ereignete, läuft hier alles seinen gewohnten, ruhigen Gang. Keine bedrohliche Krise, keine sozialen Erschütterungen, keine Massenkämpfe. In den 70er Jahren verwandelte sich die Bundesrepublik in ein Heerlager, damit einer Handvoll linker Terroristen das Handwerk gelegt werde. Damals zeigte die Repressionsmaschine, was in ihr steckt. Heute macht es offenbar Schwierigkeiten, auch nur ein paar Hundertschaften rechtzeitig dahin zu verbringen, wo es, diesmal buchstäblich, brennt. Kann sich aber eine demokratische und linke Öffentlichkeit demgegenüber damit begnügen, nach flächendeckendem Polizeieinsatz zu rufen?
Für die Alternativ-Grünen, für die Linken, für die Demokraten bis hin zu Geißler gibt es kaum einen ungünstigeren Zeitpunkt für die jetzt notwendige Konfrontation mit der Rechten als den heutigen. Desorientiert, zerstritten, machtlos und müde, wie wir sind, wir können dieser Konfrontation jetzt nicht ausweichen. Überzeugt von ihrer Nutzlosigkeit, müssen wir uns dennoch zur Teilnahme an Demonstrationen aufraffen, Präsenz zeigen, und sei es auch in den verspotteten, abgelebten Formen des Protests. Wir haben keine andere Wahl. Christian Semler
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