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KOMMENTARWarum Diestel zurücktreten muß

■ Die DDR ist mit ihrer Stasi-Geschichte aus eigener Kraft nicht fertig geworden

DDR-Innenminister Diestel muß gehen, fordern die Besetzer der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße. Daß er spätestens am 3. Oktober ohnedies seinen Hut nehmen muß, macht die symbolische Bedeutung der Rücktrittsforderung nur deutlicher.

Für das Innenministerium war das Stasi-Problem ein Sprengsatz, das wußte die DDR-SPD, als sie aus parteitaktischen Gründen auf diesen Posten zugunsten des nur repräsentativen Außenministeriums verzichtete. Wie soll eine neue, stasifreie Innenverwaltung aufgebaut werden, wenn qualifizierte „Kader“, insbesondere in sensiblen Bereichen der Polizei, fast automatisch aus dem Mielke- Ministerium stammen? Wenn es neben den knapp 100.000 hauptamtlichen noch 500.000 „informelle Mitarbeiter“ der Staatssicherheit gegeben hat, wie der Leiter des Staatlichen Komitees zur Auflösung dieses gesellschaftsumspannenden Amtes jüngst vermutete, war jeder Sechzehnte eines 16-Millionen-Volkes nicht nur als Mitläufer „dabei“. Säuglinge und Rentner eingerechnet.

Auch die Gruppen der Bürgerbewegungen, die personell in den Strukturen der Stasi-Auflösung gut vertreten sind, sind ein Jahr nach der Wende noch ratlos, wie die DDR-Gesellschaft ihre Stasi- Geschichte bewältigen kann. Die Strategie des Volkskammer-Ausschusses war es, „vertrauliche Gespräche“ mit den früheren verdeckten Stasi-Kadern, genannt OibE, zu führen. Auch die Volkskammerabgeordneten mit Stasi-Vergangenheit wurden nicht öffentlich gemacht. Klammheimlich sollten belastete Leute auf neue Jobs verzichten. Einige Vertreter der Bürgerbewegung, die jetzt die Stasi-Zentrale besetzt halten, haben sich immer wieder gegen Indiskretionen und Veröffentlichungen gewandt, die spektakulär an das Stasi-Problem erinnerten. Die jüngste Enthüllung aus dem Komplex „Offiziere im besonderen Einsatz“ kommt, nicht zufällig, von einem West-Medium.

Innenminister Diestel unterscheidet sich vor allem in einem Punkt von der verhaltenen Art, mit der die DDR-Gesellschaft insgesamt das Stasi-Problem vor sich herschiebt: Er verniedlicht es mit lässig-sportlichen Sprüchen. Das vor allem ist ihm vorzuwerfen. Sein Rücktritt käme einem regierungsamtlichen Eingeständnis gleich, daß die DDR auch nach der Wende aus eigener Kraft mit dem Problem Staatssicherheit nicht zurechtgekommen ist. Klaus Wolschner

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