KOMMENTAR: Verfassungsreformismus nein danke
■ Die gefährliche Lust an einer Grundgesetzänderung
Die Diskussion um eine neue deutsche Verfassung entwickelt sich, wie das seit dem Ende des Runden Tisches zu befürchten stand: Es geht nicht mehr darum, die Erfahrungen der Bürgerbewegung in der DDR in einem neuen Gesellschaftskontrakt zu fixieren und der Verfassung in einer anschließenden Volksabstimmung eine neue Legitimation zu verleihen, vielmehr soll nun unter Bonner Oberhoheit am Grundgesetz herumgedoktert, die Gunst der Stunde für eine durchaus reaktionäre Revision des Grundgesetzes ausgenutzt werden. Nachdem sie monatelang mauerten, gehen nun die Bonner Regierungsparteien in die Offensive: Schäuble möchte das „Bund-Länder-Verhältnis“ neu ordnen, Möllemann die Bildungspolitik zentralisieren und mit „bildungspolitischer Kleinstaaterei“ aufräumen. Zusätzlich sollen selbstverständlich die strengen Regeln für den Einsatz der Bundeswehr gelockert werden. Für die Einschränkung des grundgesetzlich garantierten Asylrechts ist die populistische Achse Lafontaine—Späth—Streibl längst geschmiedet. Auch die von Rita Süssmuth ins Spiel gebrachte Ergänzung des Grundgesetzes um ein „Recht auf Leben“ läßt nichts Gutes ahnen: Zwar will Süssmuth damit den Paragraphen 218 aus dem Strafgesetzbuch tilgen, zugleich dürfte aber mit einem solchen Recht, das eine zivilisierte Gesellschaft eigentlich nicht in ihrer Verfassung verankern müßte, auch versucht werden, die Grenzen dieses Rechtes zu regeln. Und das heißt: die Rechtsbasis für die Entwicklung der Gentechnologie zu verbreitern. Auch besteht die Gefahr, daß mit einem solchen Artikel das Lebensrecht schwer kranker und sterbender Menschen gelockert werden könnte. Diese ganze Änderungsmelange, die nicht an radikalen Vorstellungen von Freiheit und Föderalismus orientiert ist, sondern an der Staatsraison, wird mit etwas Umweltschutz als Staatsziel und mit einer Präambel, die den Terror des dritten deutschen Reiches nicht ganz verschweigt, überzuckert werden. Dazu noch eine Volksabstimmung, bei der mit Sicherheit nicht über Alternativen abgestimmt werden darf, sondern nur mit Ja oder Nein. „Falten gehen“, nannten die DDR-BürgerInnen dieses Verfahren früher.
Im Kern wollen CDU und FDP eine technokratische Verfassungsreform, die das Grundgesetz der neuen politischen Situation anpaßt. Nicht mehr und nicht weniger. Wenn sich die SPD und einige Bürgerrechtler nun freuen, daß sich die Regierungsparteien „bewegen“ und den Faden der Verfassungsdiskussion aufgreifen, den einige Sozialdemokraten und Bürgerrechtler den Sommer über gesponnen haben, so sind sie blauäugig. Die Diskussion um ein neues Grundgesetz muß unter diesen Umständen schleunigst beendet werden. Neue Verfassungen fixieren das Ergebnis gesellschaftlicher Umbrüche. Seitdem die DDR zum „Beitrittsgebiet“ geworden ist, gibt es nichts mehr zu fixieren. Das Grundgesetz, das 1949 in einer Situation der Niederlage und der Scham geschrieben wurde, ist allemal besser als eine Verfassung, die 1990 die Situation des nationalen und internationalen Triumphs festschreiben will. Götz Aly
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