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KOMMENTAR"Voll schuldfähig"

■ Im Arnsberger Prozeß ist das Urteil gesprochen worden

Als zwölfjähriges Mädchen vom eigenen Vater geprügelt und ans Bett gefesselt und vergewaltigt zu werden, muß die Frau, zu der dieses Mädchen heranwächst, nicht daran hindern, ein „normales Leben“ zu führen. Die Männer, die im Arnsberger Prozeß die Verhandlungsatmosphäre prägten, allen voran die psychiatrischen Gutacher und der Staatsanwalt, haben es so ausgedrückt. Nur einer wagte die männliche Übereinkunft mit der Frage zu stören, wieviel Leid denn Frauen zugefügt werden dürfe, bevor ihnen zumindest das moralische Recht zuerkannt werde, sich zu wehren.

Schon vor dem gestrigen Urteilsspruch war in Arnsberg gerichtet worden. Dadurch, daß niemand sich die Mühe machte, kompetente Sachverständige herbeizuholen. Sie hätten diesem Gericht Auskunft darüber geben können, wie gewalttätiger sexueller Mißbrauch, erst recht, wenn er über Jahre hinweg geschieht wie in diesem Fall, die Identität des Opfers zerstört. Dadurch, daß karrieristische Gutachter nicht daran gehindert wurden, das Verfahren zur eigenen Selbstdarstellung zu nutzen. Unter dem Etikett der Wissenschaftlichkeit durften sie das Recht der weiblichen Angeklagten auf faire und einfühlsame Beurteilung mit Füßen treten. Verzweifelt und vergeblich war die Tochter vor der Tat von Behörde zu Behörde gelaufen und hatte Schutz vor dem gewalttätigen Vater für sich und ihre Familie erbeten.

Was hatten Manuela Bolz und ihre Mutter, Waltraud Tröger, die beiden weiblichen Angeklagten, sich von den „emotionslos“ über sie richtenden Männern nicht alles sagen lassen müssen: daß sie nicht intensiv genug nach anderen Wegen gesucht hätten; daß sie nicht in einer „Therapie“ mit ihrer Angst zu leben gelernt hätten. Daß sie sich nicht schon früher gegen den Gewalttäter zur Wehr gesetzt hätten; daß, und dies traf die Mutter, sie sich „mit ihrem Leben eingerichtet“ hätten. Und nicht zuletzt, daß sie Marco Bolz — der schließlich schoß — durch ihr Verhalten zu der Tat gedrängt hätten.

Unangefochten sprachen die Richter ihr Urteil: „Voll schuldfähig“. Dieselben Richter, die eben noch festgestellt hatten, diese Frauen seien nicht fähig gewesen, ihr Leben anders zu retten als durch den Tot des Mannes, der es zerstört hatte. Die Angeklagten von Arnsberg gehen ins Gefängnis. Die Mutter der mißbrauchten Tochter nur anderthalb Jahre weniger als ihr Ex-Mann dafür gesessen hatte, daß er ihr Leben und das ihrer Tochter zerstört hatte. Mitbestraft durch den Arnsberger Richterspruch wurde auch die nächste Generation dieser Familie. Die drei Kinder der mißbrauchten Tochter, die sie hatte schützen wollen, leben nun im Heim. Bettina Markmeyer

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