KOMMENTAR: Nachdenken fördern
■ Nach der traditionellen 1.-Mai-Randale
Für den Innensenator war es ein Hauptstadt-Test, und die Polizei hatte es folglich nicht leicht: Junge Kreuzberger Randalinskis hatte sie vor sich und mißtrauische Bonner Abgeordnete im Nacken. Mit Bravour habe man die Aufgabe gelöst, versicherte die Polizeiführung gestern, und Heckelmann zog eine positive Bilanz. Berlin habe die Prüfung bestanden.
Polizeiführung und Innensenator überschlugen sich vor Begeisterung — doch sie können bald auf die Nase fallen. Denn der geschickte Massenaufmarsch der Polizei verdeckt nur schlecht die kleinen Schweinereien im Detail. Um so schlimmer, daß der neue Innensenator — anders als sein Vorgänger Erich Pätzold — wenig Neigung hat, Übergriffen der Beamten nachzuspüren. Schon vor dem 1. Mai gewährte er den Polizisten die Generalabsolution: Nach den Prügeleien in Kreuzberg werde es keine »Nackenschläge« des Senators geben, versprach er seinen Mannen. Also: Wer über die Stränge schlagen wollte, der durfte es sich leisten.
Während der Demonstration am Nachmittag agierte die Polizei noch klug und hielt sich zurück. Die Einsätze in der Nacht waren schlau organisiert, aber klug waren sie nicht mehr. Daß die Sachschäden in Kreuzberg gering blieben, daß es weniger Verletzte gab als in den letzten Jahren, das war offensichtlich nicht nur ein Erfolg der Polizei. Selbst einige Polizeibeamte räumten es ein: Jugendgangs und autonome Grüppchen hielten sich in diesem Jahr von selbst zurück. Rot-grüne Deeskalationspolitik und erregte Debatten in der einschlägigen Kreuzberger Szene haben einige Betonköpfe in den Gangs und der autonomen Szene die schwierige Kunst des Nachdenkens gelehrt. Das sollte man fördern, nicht zerdeppern. Denn der Kopf ist nicht dazu da, ihn hinzuhalten — schon gar nicht in der Hauptstadt. Hans-Martin Tillack
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen