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KOMMENTARNormalität als gesellschaftliche Aufgabe

■ Zur Unterzeichnung des deutsch-polnischen Freundschaftsvertrages

Im alten polnisch-ermländischen Städtchen Morag steht ein Denkmal, errichtet für einen deutschen Philosophen: Johann Gottfried Herder. „Freund der slawischen Völker“, ist auf dem Sockel zu lesen. Eine traurige Inschrift. Wie muß es um das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn bestellt gewesen sein, daß die Stifter des Denkmals es für angebracht hielten, der Freundschaft Herders so feierlich zu gedenken?

Unter denen, die sich diesseits und jenseits der Oder ein Menschenalter lang für die polnisch-deutsche Verständigung abmühten, löst die Unterzeichnung des Freundschaftsvertrags keine Begeisterung aus, oft nicht einmal Genugtuung. Zu offensichtlich wurde der Abschluß der Verträge für die deutsche Seite als Preis der deutschen Einheit angesehen. In zu trostloser Erinnerung sind die Windungen und Wendungen unserer Regierung, ihre innenpolitischen Rücksichtnahmen. Von einer sinnfälligen symbolischen Handlung, die wichtig gewesen wäre bei diesem so symbolanfälligen Volk, keine Spur. Menschlich überzeugende Gesten fehlten sowieso. Dafür der Empfang der ersten visumfrei reisenden Polen an der „Brücke der Freundschaft“ durch eine Horde von Rechtsradikalen, der niemand Einhalt gebot, nicht die Polizei und erst recht nicht die Regierungsvertreter, die trotz notorischer Publicity-Geilheit ausgerechnet diesen Termin ausließen. Es ist wahr, die ökonomischen Imperative zwingen Polen dazu, die Zusammenarbeit mit Deutschland um jeden Preis zu suchen. Aber genauso wahr bleibt, daß Politik nicht in Schuldenerlaß und wohldosierten Almosen aufgeht. Es wird Jahrzehnte brauchen, ehe die vielbeschworene „Normalität“ etwa des deutsch-französischen Verhältnisses auch das deutsch-polnische bestimmen wird. Aber man kann diese gesellschaftlichen Prozesse fördern. Nicht nur durch langfristige Projekte wie das gemeinsame Jugendwerk, sondern sofort und unkompliziert. Beispielsweise materiell, indem das Verbot befristeter Ferienarbeit für osteuropäische Touristen gelockert wird. Oder kulturell, indem unsere Regierungen die Arbeit der polnischen Vereinigungen in Deutschland unterstützen, statt sich ausschließlich zum Schirmherrn der Oppelner Schlesier aufzuschwingen. Oder psychologisch — und sei es nur, indem der impertinenten deutschen Überheblichkeit, der Besserwisserei und Belehrungssucht öffentlich entgegengetreten wird oder indem man sich — wenn auch nur einen Augenblick lang — anstecken läßt von der Großzügigkeit, der Leichtigkeit, dem liederlichen Charme unserer östlichen Nachbarn. Aber das geht über die Kraft unserer Biedermeier.

Verständigung muß von unten wachsen — das ist ebenso trivial wie wahr. Bedenkt man allerdings die Stimmungen, die hierzulande den Polen entgegenschlagen, so möchte man fast zu der Schlußfolgerung gelangen, unsere Regierung sei hier trotz allem ihrem Volk voraus. Und dennoch: Laßt uns auf die hochgestimmten kleinen Freundeskreise setzen, die sich von Szczecin bis Görlitz der Völkerverständigung widmen — und auf den common sense der Grenzbewohner, die wöchentlich einmal nach Polen hinüberfahren, um billig einzukaufen. In den Kommunen östlich der Oder regieren viele neue Bürgermeister, zumeist ehemalige Aktivisten der Solidarność, die die historischen Aufrechnungen satt haben. Man beginnt sich mit einer lokalen und regionalen Geschichte zu identifizieren, die nicht polnisch ist — aber eben auch nicht „rein“ deutsch. Der Entschluß der brandenburgischen Landesregierung, die neue Universität in Frankfurt/Oder als eine multikulturelle Institution mit Schwerpunkt Ostmitteleuropa zu konzipieren, ist deshalb eine Pioniertat gesellschaftlicher Verständigung. Johann Gottfried Herder, den die Nationalisten vergeblich zu schlucken versuchten, wird sich im kleinen Morungen, das heute Morag heißt, darüber freuen. Christian Semler

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