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KOMMENTARDas Boot soll geleert werden

■ Zehntausenden De-facto Flüchtlingen droht die Abschiebung

Sich für Flüchtlinge einzusetzen, ist in diesem Land und in diesen Zeiten eine ziemlich undankbare Aufgabe. Das weiß die SPD, weshalb sie bei der drohenden Abschiebung von De- facto-Flüchtlingen keinen Streit mit der Bonner Regierungskoalition riskieren wird — ganz abgesehen davon, daß das eigene Parteivolk an den Infoständen wenig Verständnis zeigen würde.

Denn der Populismus in Sachen Flüchtlingspolitik verfängt parteiübergreifend nach dem einfachen Schema: Wer kein politisches Asyl bekommt, ist nicht politisch verfolgt — ergo ein Wirtschaftsflüchtling oder „Asyltourist“. Daß 60 Prozent der abgelehnten Asylsuchenden „De-facto-Flüchtlinge“ sind, also aus humanitären, rechtlichen oder politischen Gründen eigentlich nicht abgeschoben werden können, ist den meisten fremd — und dem Bundesinnenministerium, wie Landes- und Kommunalpolitikern ein Dorn im Auge. „Konsequenter abschieben“ heißt die Devise. Nun, kurz vor Inkrafttreten des Schengener Abkommens, hat Bonn das Instrumentarium zur Hand.

Was im Rahmen des Schengener Abkommens als „Harmonisierung“ der Asylpolitik verkauft wird, ist ein Regularium, sich Flüchtlinge möglichst vom Hals zu halten. Statt Harmonie ist vielmehr ein nationalstaatlicher Wettbewerb mit dem Klassenziel absehbar: Wer schafft es, die wenigsten Flüchtlinge ins Land zu lassen. Bonn möchte diesen Wettkampf offensichtlich mit möglichst leerem Boot beginnen. Dabei geht es hier nicht nur um europäische Asylpolitik, sondern auch um den Umgang der Deutschen mit den Fremden. Die Chance, ein Signal für eine offene Gesellschaft zu setzen, wurde schon einmal, vor einem Jahr, verpaßt: Damals hatte man in Westdeutschland mit Empörung die Lebensbedingungen von 90.000 Vertragsarbeitern aus Vietnam, Mosambik und Angola in der DDR zur Kenntnis genommen. Doch anstatt dieser Gruppe von Migranten ein Bleiberecht anzubieten, erhielten sie einen Tritt in den Hintern. Das gleiche steht nun den Flüchtlingen bevor — mit weitaus bedrohlicheren Konsequenzen für ihr Leben.

Dringend gebraucht wird eine kritische Öffentlichkeit. Gefragt sind die Kirchen, vor allem die katholische, die sich nach soviel Gedanken um das ungeborene Leben auch ein paar um das bereits existierende machen könnte. Gefordert ist auch der UN-Flüchtlingskommissar, der diplomatischen Höflichkeitsregeln zum Trotz in Bonn mit Nachdruck auf einen Abschiebeschutz für De-facto- Flüchtlinge bestehen muß. Gefragt ist aber auch das gesamte Solidaritätsspektrum, das sich endlich einmal der Lobbyarbeit in den Parlamenten widmen muß, anstatt seine moralisch berechtigte, aber notorisch wirkungslose Empörung in Flugblätter und Presseerklärungen zu gießen.

Wenn die Mehrheit der SPD-Abgeordneten wenigstens wüßte, was ein De-facto-Flüchtling ist, wäre man schon ein gutes Stück weiter. Andrea Böhm

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