KOMMENTAR: Glänzende Abwesenheit
■ Hat die Macht der Gewohnheit schon gesiegt?
Was ist los in dieser Stadt, die wie keine andere in Deutschland zumindest einen Hauch von multikulturellem Nebeneinander verströmt hat? Was ist los, wenn Berlin sein eigenes Hoyerswerda oder Hünxe erlebt, wenn — wie letzten Montag geschehen — ein Vietnamese auf offener Straße von Skinheads fast zu Tode geprügelt wird, so daß er immer noch im Koma liegt? Nichts ist los, gar nichts!
Zu einer Protestdemonstration erscheinen am Samstag nachmittag knapp 700 Menschen, gut zwei Drittel von ihnen vietnamesische Landsleute des lebensgefährlich verletzten Bai V., die sich trotz aller Ängste in die Öffentlichkeit wagen. Von der deutschen linken oder liberalen Öffentlichkeit keine nennenswerte Spur. Nur ein paar versprengte Autonome und krude Spartakisten repräsentieren das Protestpotential dieser 3,5-Millionenstadt. Die AL glänzt genauso durch Abwesenheit wie die übrigen Parteien. Und auch für die türkischen Organisationen, die vor zwei Jahren beim Tod Ufuk Sahins Tausende auf die Beine brachten, scheint der bisher bedrohlichste Überfall kein Thema zu sein.
Einzig Berlins Ausländerbeauftragte, Barbara John (CDU), marschierte in dem Protestzug wacker und allein in vorderer Reihe — kein Walter Momper an ihrer Seite, keine AL-Fraktion, kein Bischof Kruse und keine Carola von Braun, keine DGB-Vorsitzende und kein Regierender Bürgermeister. Der erst vor wenigen Tagen verabschiedete »Gemeinsame Aufruf aller gesellschaftlichen Kräfte in Berlin« gegen Ausländerfeindlichkeit — ein zahnloser Papiertiger. Daß Berlin sich erstarrt in den vorgezogenen Winterschlaf zurückgezogen hat, wäre noch die gutwillige Interpretation. Die schlimmere heißt: Die Macht der Gewohnheit hat gesiegt, die täglichen Meldungen über ausländerfeindliche Gewalt lassen die Taten nicht etwa schlimmer werden, sondern nur normaler. Vera Gaserow
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