KOMMENTAR: Heißes altes Jahr!
■ Mit DT64 verschwindet eine eigene Kulturform
Die Situation ist paradox: Da sammeln junge Männer und Frauen in der Ex-DDR und am Zonenrand ganze 230.000 Unterschriften für DT64. Nebenbei hungert, friert und demonstriert ein Gutteil der eine Million StammhörerInnen noch für für das Jugendradio, putzt Klinken in Bonn und den neuen Ländern. Doch am 31. Dezember um null Uhr wird die Post den Stecker ziehen, und im Äther wird es rauschen — wenn nicht noch ein vorweihnachtliches Wunder geschieht. Denn die Parteipolitiker haben sich — barmherzig in eigener Sache — entschieden, den Unmut der JungwählerInnen zu ignorieren. Sie und die Anstaltsoberen der ARD wollen »eigene«, kontrollierbarere Jugendprogramme und gründen lieber neu. Dabei haben die DT64-Freunde sogar die Schallplattenbosse und viel Prominenz hinter sich, von Frank Schöbel über die Toten Hosen bis zur kompletten Mannschaft von Dynamo Dresden. Doch die Politiker setzen auf Zeit.
Mit dem Abschalten von DT64 würde nicht nur eine Leerstelle auf der UKW-Skala entstehen. Es wäre nicht nur das Ende des einzigen deutschen Rock'n'Roll-Senders: Mit DT64 würde auch eine besondere Form von Kultur sterben. Eine Kultur der Verständigung, Diskussion und Lebenshilfe. Da wird den Westhörern der Osten erklärt. Und es werden Angebote gemacht, mit denen der Systemwechsel besser verarbeitet werden kann. Ein Radio, das sicher ein paar Sozialarbeiter einspart; und die Sprache seiner Hörer trifft. Doch die integrative Wirkung von DT64 ist der Politik nichts wert, statt dessen läßt sie einen neuen und teuren RIAS als Nationalradio wie Phönix aus der Asche steigen. Und wenn der Protest am Ende in das umschlägt, von dem die Rolling Stones immer noch singen — street fightin' — und das Funkhaus in der Nalepastraße das heißeste Silvester aller Zeiten erlebt, dann werden die Parteileute jaulen über die Störung des Neujahrsfriedens im zweiten Jahr der Einheit. Hans-H. Kotte
(Siehe Seite 4)
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