KOMMENTAR: Schon wieder eine verpaßte Chance
■ Der tschechoslowakisch-deutsche Vertrag und die Last der Vergangenheit
Die Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei nach 1945 sei mit der Kollektivschuldthese begründet worden und allein deshalb moralisch nicht zu rechtfertigen — so Vaclav Havel und viele Demokraten schon lange vor der „samtenen Revolution“ von 1989. Der Unrechtsakt der „Ausweisung“ habe die Bevölkerung gegenüber der Gesetzlosigkeit des späteren kommunistischen Regimes wehrlos gemacht. Als Präsident hat Havel es nicht bei Entschuldigungen gegenüber den böhmischen Deutschen belassen. Er forderte sie zur Mitarbeit bei der demokratischen Umgestaltung und ökonomischen Sanierung des Landes auf.
Jetzt haben der tschechische Premier Petr Pithart und — ihn präzisierend — Havel erklärt, die Sudetendeutschen könnten die Staatsbürgerschaft der CSFR wiedererlangen, auch Grund und Boden erwerben. Voraussetzung sei lediglich, daß die BRD das Münchner Abkommen als von Anfang an nichtig ansähe. Beide Seiten sollten auf alle Entschädigungs- beziehungsweise Rückgabeforderungen verzichten. Das ist, gemessen an den Ängsten vieler Tschechen vor einem Ausverkauf an die Deutschen und angesichts mancher bitterer Erinnerungen, eine großzügige und weitsichtige Position. Hat die CSFR doch ihre Absicht erklärt, bis zur Jahrtausendwende der EG beizutreten.
Es ist für eine Politik, die innerpolitische Pressionen zur Richtschnur außenpolitischer Entscheidungen macht, typisch, einem solchen Angebot auszuweichen. Schon bei den Verhandlungen zum polnischen Vertrag galt für die deutsche Seite dieses elende Primat der Innenpolitik, die Rücksichtnahme auf CSU und Vertriebenenverbände. Bei den Verhandlungen über den tschechoslowakisch- deutschen Vertrag hat die Bundesregierung den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages im Unklaren über das genaue Verhandlungsangebot der CSFR-Regierung gelassen. Sie hat damit die Chance vertan, im Verhältnis beider Länder vertrauensbildend zu wirken. Sie hat verhindert, daß die Gesellschaften beider Länder sich aufeinander zubewegen. Man ist mit der CSFR (wie vorher schon mit Polen) übereingekommen, vermögensrechtliche Fragen auszuklammern. Jetzt stellt sich heraus, daß an diesem neuralgischen, die Gemüter bewegenden Punkt Übereinstimmung möglich gewesen wäre, wenn die Bundesrepublik der Nichtigkeitserklärung des Münchner Teilungsabkommens ex tunc zugestimmt hätte. Zug um Zug für eine Geste, die zwar völkerrechtlich bedeutsam aber letztlich nur symbolischer Natur ist, wäre das gesamte Terrain der Beziehungen bereinigt worden.
Dieses so symptomatische Versäumnis der Bundesregierung liefert Havel und seine Freunde dem zunehmenden Druck tschechischer nationalistischer Kräfte aus, die notfalls den gesamten Vertrag scheitern lassen wollen. Schon daß die Vertreibung beim Namen genannt wird, ist ihnen ein Greuel. Es besteht die Gefahr, daß das Verhältnis zu den Deutschen den kommenden Wahlkampf in der CSFR polarisiert. Das wenigste, was von der Opposition in Bonn zu fordern ist: der Entschließung des Bundestages, die die Vermögensfragen im Verhältnis zur CSFR für offen erklärt, in der jetzigen Form die Zustimmung zu verweigern. Christian Semler
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