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KOMMENTARExekution als Exorzismus

■ Über die tiefere Bedeutung von Hinrichtungen in den USA

Exekution als Exorzismus Über die tiefere Bedeutung von Hinrichtungen in den USA

Bei der Diskussion um politische Reizthemen verschwinden auch die klarsten Köpfe im Nebel. Das ist keine amerikanische Spezialität. US-Politiker und US-Bürger sind rationalen Argumenten bezüglich der Todesstrafe genauso zugänglich wie ihre bundesdeutschen Kollegen in Sachen Asylpolitik. Offenbar braucht jede Gesellschaft ihr eigenes Reizthema, mit dem sie ein kollektives Ritual vollziehen kann, das mit der Lösung von Problemen nichts, mit dem Exorzieren von Ängsten sehr viel zu tun hat. Fast achtzig Prozent der Amerikaner sind laut Umfrage für die Todesstrafe — die große Mehrheit von ihnen glaubt aber nicht an eine abschreckende Wirkung. Den Befürwortern reines Rachebedürfnis zu unterstellen erklärt dieses Phänomen nur unzureichend. Denn die Todesstrafe wird auch als Gegengift für den Zustand allumfassender Hilflosigkeit und Angst vor alltäglicher Gewalt verabreicht.

Deren Eskalation beobachten die Amerikaner tagtäglich am Fernseher oder, je nach Geldbeutel und Wohnlage, in der Nachbarschaft — mit dem Gefühl, diesem Teufelskreis völlig ausgeliefert zu sein. Die Todesstrafe dagegen suggeriert Handlungsspielraum. Da wird die ultimative Macht über einen einzelnen Menschen exerziert, den ein Geschworenengericht vorher für nicht mehr lebenswert erklärte. Wen es in den Tausenden von Mordprozessen jährlich trifft, hängt nicht zuletzt von der Hautfarbe und dem Einkommen des Angeklagten ab; oder vom Ehrgeiz des Staatsanwaltes und der Stimmung der Geschworenen. Rechtsanwälte und Bürgerrechtler vergleichen den Ausgang von Mordprozessen nicht umsonst mit der Ziehung von Lottozahlen.

Während das Berufungsverfahren in Todesstrafenfällen zunehmend einem durchlöcherten Teppich gleicht, wird das Ritual der Exekution immer weiter perfektioniert. Oft hat es sogar den Anschein, als wolle man sich in diesem kollektiven kathartischen Ritual auch noch der Kooperation des Verurteilten versichern. In manchen Bundesstaaten „dürfen“ Delinquenten zwischen zwei Hinrichtungsformen wählen, als handele es sich um einen Akt der Freiwilligkeit, an der eigenen Ermordung mitzuwirken. So wird zum Beispiel in Texas die Einführung der Todesspritze als schmerzlose und „angenehme“ Hinrichtungsform gepriesen.

Zum Tode Verurteilte, die nach jahrelanger Haft im Todestrakt aufgeben und keine weiteren Rechtsmittel gegen das Urteil mehr einlegen, werden in den offiziellen Statistiken als „volunteer executions“ aufgeführt. Der jetzt vor seiner Hinrichtung stehende Roger Coleman mußte sich letzte Nacht bei einer Live-Schaltung in den Todestrakt von Virginia von einem Nachrichtenmoderator fragen lassen, ob er jetzt bereit sei zu sterben. Coleman, dem seine Anwälte offenbar eingeschärft hatten, ruhig und höflich zu bleiben, erklärte regungslos, er hoffe, daß es nie so weit kommen werde. Dabei hätte er schreien müssen. Andrea Böhm, Washington

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