KOMMENTAR: Vom Teufel der Ignoranz geritten
■ Zum neuesten „Memorandum“ der Friedensbewegung
Der Aufruf „SOS-Rutschgefahr“ erweist seinem Ziel, mittels einer rationalen, breit angelegten öffentlichen Diskussion Schnellschüssen der Bundesregierung in Sachen Einsatz der Bundeswehr out of area vorzubeugen, den denkbar schlechtesten Dienst. Jede auch nur halbwegs ernst zu nehmende Analyse der UNO-Friedensaktionen müßte zwischen den peace-keeping- missions, die die Weltorganisation in den letzten Jahren unternommen hat, und der vom Sicherheitsrat mandatierten, faktisch aber von den USA und ihren Verbündeten durchgeführten Militäraktion am Golf unterscheiden. Angesichts der Erfolge der UNO-Missionen von Namibia bis El Salvador die These aufzustellen, der Weg in die Politik militärischer Intervention sei mit „Blauhelmen“ und „humanitären Einsätzen“ gepflastert, ist nicht nur eine monströse Tatsachenverdrehung. Haltungen wie diese unterminieren gerade die Anstrengungen, im Rahmen der UNO, die Dominanz einiger weniger Großmächte zurückzudrängen. Statt konkrete Vorschläge wie den von Butros Ghali zu prüfen, der seit Frühjahr dieses Jahres die Aufstellung einer permanenten UNO-Streitmacht fordert, wird — völlig unrealistisch — die Reform des UNO-Sicherheitsrats an Haupt und Gliedern gefordert. Ghalis Vorschlag gibt jedem Staat die Möglichkeit, zur Ausformung der künftigen UNO-Streitkräfte beizutragen, relativiert also die Dominanz der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates. Innerhalb des UNO-Generalsekretariats werden ferner Anstrengungen unternommen, ein „Krisen-Frühwarnsystem“ aufzubauen und die Möglichkeiten zur rechtzeitigen Entschärfung ausgebrochener Krisen zu verbessern — alles im Rahmen der geltenden UNO-Satzung. Wir haben es hier nur mit bescheidenen Schritten zu tun. Sie könnten aber, getan, bedeutende praktische Folgen zeitigen.
Die Notwendigkeit der UNO-Reform — übrigens nicht nur des Sicherheitsrats, sondern auch der Generalversammlung und der Spezialorganisationen — ist offensichtlich, und vernünftige Vorschläge gibt es dazu wie Sand am Meer. Die Verfasser des Aufrufs „SOS-Rutschgefahr“ haben aber ihr Scherflein zu der Reformdebatte mit einem gefährlichen Hintergedanken getätigt: Wenn der große Durchbruch nicht gelingt, verzichten wir auf das jetzt durchsetzbare. Vertraute, allzu vertraute Gedankengänge!
Die UNO-Soldaten, die bei den verschiedenen peace-keeping-missions Dienst tun, brauchen von den Autoren des Aufrufs keine Belehrung darüber, daß ihr Einsatz eine gänzlich andere Ausbildung voraussetzt, als sie das „normale“ Militärtraining vermittelt. Die skandinavischen Staaten haben hier Pionierarbeit geleistet, die es gilt, zur Kenntnis zu nehmen, wo nötig zu verbessern. Auch hier dient der Vorschlag des „Aufrufs“ zur individuellen Mitgliedschaft in einem Blauhelmkorps nach Ableistung gewaltfreier Grundausbildung keinem anderen Zweck, als eine Diskussion über jetzt begehbare Wege der „Deeskalation“ lokaler Konflikte im Namen des Prinzips möglichst zu verhindern.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende der bipolaren Welt, aber auch die Notwendigkeit, globale Bedrohungen gemeinschaftlich zu meistern, geben der Weltorganisation eine unerhörte, von niemandem vorhergesehene Bedeutung. So elend, parasitär, wildwüchsig auch ihre gegenwärtige Struktur sein mag — wir haben keine andere UNO als diese. Welcher Teufel der Ignoranz mag die Verfasser des Aufrufs geritten haben, das Kongo-Abenteuer Dag Hammarskjkölds und sein unrühmliches Ende den Lesern als warnendes Beispiel dafür vor Augen zu führen, wohin der Einsatz von „Blauhelmen“ mit Notwendigkeit führen muß? Ist den Autoren, worunter sich einige Friedensforscher von Profession befinden, wirklich entgangen, daß der damalige Konflikt Ausdruck der Rivalität der beiden Supermächte war? Daß eben diese Rivalität eine große Anzahl von Konflikten nährte, sie oft genug unlösbar machte? Und daß wir diesen Weltzustand mittlerweile hinter uns gelassen haben? Statt dem Kongo der 60er Jahre hätte der Aufruf gut getan, einem zeitlich wie örtlich etwas näher liegenden Konfliktherd Aufmerksamkeit zu schenken. Aber — interessanter- wie bezeichnenderweise — kein einziges Wörtchen zum ehemaligen Jugoslawien.
Unklugerweise vermischt der Aufruf unterschiedliche Sachverhalte: peace-keeping-missions und mögliche Gewaltanwendung nach Kapitel VII der UNO-Charta, die Frage der Friedensprophylaxe und praktischen Friedenserziehung mit dem UNO-Einsatz angesichts ausgebrochener Konflikte. Und all das mit der Frage einer deutschen Beteiligung an Blauhelm-Einsätzen, die — Ergebnis der deutschen „Interventionen“ in diesem Jahrhundert — durchaus einer gesonderten Diskussion bedürfte. Verfasser und Unterzeichner des Aufrufs sollten das von ihnen zu Recht geforderte Moratorium für eine öffentliche Diskussion dazu nutzen, ihr eigenes Elaborat nochmals zu überdenken. Christian Semler
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