piwik no script img

Archiv-Artikel

KLEIDER WIE TISCHDECKEN, SUPPE MIT GEMÜSE UND KUSCHELN AUF DER COUCH. DER ESC-ABEND IN EINEM KLEINEN SLOWENISCHEN DORF Contest, europäisch

MARTIN REICHERT

Den Eurovison Song Contest anschauen, zusammen mit den besten schwulen Freunden, das gehört dazu. Das ist Tradition. Der CSD ist eine Art Weihnachten, der ESC womöglich Ostern. Da kann man auch nicht raus, es ist wie mit Familienfesten. Egal ob man Christbäume, Ostereier oder Eurotrashbumsmusik nun mag oder nicht – alle müssen mitmachen. Beim ESC sitzt man normalerweise irgendwo in einem Wohnzimmer mit einem Beamer, Prosecco und Naschwerk. Peter Urban kommentiert, aber noch viel lustiger sind meist die Parodien, Kommentare und Verulkungen der Anwesenden.

So ist es Brauch, doch in diesem Jahr war alles anders. Die besten Freunde waren in Wien, und während sie dort bereits irgendwo vorglühten, fuhr ich mit meinem Freund über menschenleere österreichische Autobahnen. Wir waren auf dem Weg nach Slowenien, seinem Heimatland, um dort Freunde zu besuchen. Den ESC würden wir also embedded in einer Heterokleinfamilie anschauen, in einem winzigen Dorf in den Bergen. Rund 300 Kilometer entfernt von Wien. Ein Abenteuer.

Ankunft 18.30 Uhr, nach zehn Stunden Fahrt. Im Dorf gibt es eine Kirche, ein Denkmal für die Partisanen und drei Straßenlaternen. Und am Abendbrottisch der Familie sitzen die Kinder aufgereiht wie die Orgelpfeifen. Es gibt Minestra, eine Suppe mit Gemüse und Hülsenfrüchten. Man streut Parmesan darauf. Dazu Pfannkuchen mit Mirabellenmarmelade oder Nutella, das extra in Triest gekauft wurde. Ein Abendessen irgendwo zwischen Österreich, Kroatien, Ungarn und Italien.

Als die Kinder Conchita Wurst auf dem Bildschirm sehen, sind sie ganz außer sich: Eine Frau mit Bart! Sie quietschen vor Vergnügen, während mein Freund und ich schon eingekuschelt auf der Couch sitzen, die Eltern ebenso auf der Nebencouch. Die Gastgeberin sagt, dass die slowenische Kandidatin ein Kleid trägt, das aussieht wie eine handgearbeitete Tischdecke ihrer Mutter. Ich erzähle, dass für Deutschland eigentlich ein dicker Mann hätte antreten sollen, dieser aber habe dann keine Lust mehr gehabt. Wir alle lachen.

Als klar wird, dass Slowenien nicht genug Punkte bekommen wird, biete ich an, meine Eltern anzurufen, damit sie von Deutschland aus anrufen, aber wir kommen schnell auf die Idee, dass Deutschland die Punkte nötiger hat: Letzter. Heiterkeit.

DIE FÜNFTAGEVORSCHAU | KOLUMNE@TAZ.DE

Montag

Maik Söhler

Darum

Dienstag

Doris Akrap

Eben

Mittwoch

Anja Maier

Zumutung

Donnerstag

Margarete Stokowski

Luft und LiebeFreitagMichael Brake Kreaturen

Und als ich dort so saß, irgendwo in Europa den Eurovision Song Contest anschauend, wurde mir noch einmal klar, dass Europa längst nicht mehr nur eine Idee ist, sondern Realität geworden ist. Und noch später, als wir im Ehebett der Familie liegen – selbstverständlich bekommt der Besuch das größte und bequemste Zimmer –, wurde mir noch einmal klar, dass ich gerade in einem winzigen, ländlich geprägten Land bin, das es als Erstes in Osteuropa auf die Reihe bekommen hat, die Ehe für Homosexuelle zu öffnen – während es zugleich mit heftigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. In meinem bräsigen Heimatland hingegen redet man immer nur von Austerität, weniger von Liberalität.

Tischdeckenkleid hin oder her: Twelve Points go to Slovenia!