: KASTANIENNASEN
■ „Internationale Woche Gestisches Theater - Berlin '90“
Als Vergnügung für Touristen verramscht, als kurzweilige Attraktion für Stadtfeste, als Beschäftigungstherapie und sinnstiftendes Spiel für arbeitslose Jugendliche, als reizender Werbegag, lustig, lustig und hintersinnig tiefgründelnd immer und immer wieder die anthropologischen Konstanten menschlichen Seins ausschöpfend - hat sich die Pantomime in den anderthalb Jahrzehnten nach ihrem ersten glücklichen und befreienden Ausbruch aus den Formen deklamatorischen und verinnerlichten Theaterspiels allmählich den Wind aus den Segeln genommen.
Aber noch gibt es sie, die Hoffenden, die die Kunst der Geste und sprachlosen Kommunikation in den Zeiten der Geschwätzigkeit für einen Ausweg aus dem Tümpel der Floskeln und Worthülsen und der kopflastigen Verarmung halten. Im Januar 1990 wurde auf Initiative von Eberhard Kube und Thilo Zantke das „Mime Centrum Berlin“ gegründet. Kube, der seit 1961 das „Berliner Pantomimentheater vom Prenzlauer Berg“ leitet und 1984 die „Woche des gestischen Theaters“ initierte, will den Mimen eine zentrale Dokumentationstelle schaffen, Weiterbildungsformen und das Konzept für eine Mimen-Schule entwickeln, eine Vernetzung der Mimen und ihrer Publikationsorgane aufbauen, internationale Kooperationen fördern und den Aufbau einer unabhängigen Theateragentur anregen. Diese Schritte der Kooperation, Information und Weiterbildung, die sich in der „Woche des gestischen Theaters“ mit Aufführungen von 19 Compagnien (inclusive Altstar Marcel Marceau), 11 (schon ausverkauften) Workshops, Ausstellungen und einem Symposium konzentrieren, sollen dazu beitragen, Pantomime aus ihren engen Grenzen, den thematischen Wiederholungen und ihrer leichten Vereinnahmung zu befreien.
Gegen das allgemein Menschliche, das allzuoft als zwar rührendes doch die gesellschaftlichen Überformungen unserer Körpersprache wenig differenziert erfassendes Resultat der Pantomime übrigbleibt, marschierten schon auf der Pressekonferenz des Spektakels zwei Herren der Zunft mit eindeutigem DDR-Charme an und unterhielten mit den peinlichen Dunkelmännergesten angeblich vergangener Zeiten, als penetrant verunsicherte Reporter, als obrigkeitssüchtige Putzfrau und ewig infantiler Sexist die Journalisten. Die Ausschlachtung der Klischee-Leichen aus dem Gruselkabinett des Ostens wird jetzt internationales Gemeingut.
Topographie für Mimensüchtige: Die Stadtbezirke Kreuzberg und Prenzlauer Berg, paktierend in dieser erstmalig Ost- und WestKünstler zusammenbringenden internationalen Woche des Gestischen Theaters und bald sicher um die Alternativ-Kultur konkurrierend, stellen auf dem Stadtplan im Programmheft, der die Grenzübergänge mit aufgeregten Ausrufezeichen markiert, ihre Spielorte vor: Mime Centrum, Zeiss -Großplanetarium, Volksbühne, Filmtheater am Friedrichshain, Berliner Prater und das Internationale Kommunikationszentrum am Prenzlauer Berg, Hebbel-Theater und Bethanien in Kreuzberg.
Zu dem Symposium „Der soziale Klang der Geste theoretische und praktische Dimensionen menschlicher Körpererfahrung in Kunst und Alltag“ werden Rudolf zur Lippe, der Humanethnologe Prof. Dr. Hans Hass, der Theaterwissenschaftler Prof. Dr. Ernst Schumacher und andere als Vortragskünstler kommen. Praktisch demonstrieren Donato Sartori die Macht der Maske und Christian Mattis die Dramaturgie der Bewegung. Zwischen Biologie, Soziologie, Anthropologie und Kunst werden Herkunft und Expressivität der Geste ermittelt, um die mögliche Bedeutung des gestischen Theaters auch als theoretische Forderung an die Praktiker stellen zu können.
Katrin Bettina Müller
Karten für die Theatervorstellungen, die am 29. Juni beginnen, können schon jetzt am Hebbel-Theater, der Theaterkasse Palasthotel und im Verkaufsbüro Berliner Prater erworben werden. Ausstellungen: „Die Kunst der Maske“, Zeiss -Großplanetarium, 22.6. bis 15.7., 13-19 Uhr; „Das Gespenst der Freiheit - Theatralische Fotografie“ von Gert Weigelt, 24.6.-15.7. Galerie am Prater, 13-19 Uhr; Theatergrafik von Fritz van Hartingsveldt, Internationales Kommunikationszentrum in der Dimitroffstraße. Symposium „Der soziale Klang der Geste“, 27.-29. Juni, Vorträge, Diskussionen, Film, Performance - Anmeldung und Information im Mime Centrum Berlin/DDR und im Hebbel Theater, Telefon: 259 00 441.
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