Justizskandal im Jugendheim: Das Leiden von Glückstadt
Schläge, Demütigungen, Zwangsarbeit: 35 Jahre haben sie darüber geschwiegen was sie in Glückstadt erlitten. Nun brechen ehemalige Insassen ihr Schweigen.
SCHWEDENECK/BERLIN taz Er hat den Mann dann durchs Zimmer kriechen lassen. "O wie ist das Leben schön" musste er dabei singen. Und ihm die Schuhe lecken. Eine gerechte Strafe für einen, der es gewagt hatte, seinen Freund zu belästigen, fand Otto Behnck.
Es schneit über der Ostsee, die Wohnung liegt nur fünfzig Meter entfernt vom Strand in Schwedeneck, Ledercouch, Tierfellteppiche, freigelegte Dachbalken. Otto Behnck lebt seit einigen Jahren allein hier, zweimal verheiratet, drei Kinder von drei Frauen, er hat das alles hinter sich gelassen. 56 Jahre alt ist er, er sagt: "Familie, ich weiß einfach nicht, wie das geht."
Auf Druck der Opfer findet am 19. Januar im schleswig-holsteinischen Sozialministerium ein runder Tisch zum ehemaligen Landesfürsorgeheim Glückstadt statt. Die Kieler Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) hat bereits die politische Verantwortung aus heutiger Sicht übernommen und die wissenschaftlich-historische Aufarbeitung angekündigt. Damit beauftragt ist der Pädagogikprofessor Christian Schrapper von der Universität Konstanz. Die ehemaligen Heimkinder fordern eine Rehabilitierung für ihren schuldlosen Arrest und die erlittenen Demütigungen, zudem eine finanzielle Entschädigung für die körperliche Arbeit, die sie unentgeltlich leisten mussten. Auch wollen sie wissen, wie viele von ihnen sich zwischen 1949 und 1974 in Glückstadt das Leben nahmen. Die Öffentlichkeit soll erfahren, welche Erziehungspraktiken unter dem Deckmantel der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte in der jungen Bundesrepublik möglich waren.
Es ist ja nicht so, dass sein Leben völlig aus dem Ruder gelaufen wäre wegen der Monate in Glückstadt, dieser schleswig-holsteinischen Kleinstadt mit dem trügerischen Namen. Im Gegenteil. Selbstständig hat er sich gemacht vor über 30 Jahren, als er endlich raus war aus diesem Landesfürsorgeheim, das wie ein Strafgefangenenlager funktionierte. Straßenhändler in Kiel ist er geworden, zum Leben reicht es, dem Staat jedenfalls ist Otto Behnck nie zur Last gefallen.
Und schon gar nicht ist er kriminell geworden, wie so viele andere Zöglinge von damals. Dass er offenbar Schwierigkeiten mit dauerhaften Beziehungen hat, die auf Vertrauen basieren, dass er zuweilen schrecklich wütend wird, so sehr, dass er andere quälen oder schlagen könnte - meist hat er sich im Griff. "O wie ist das Leben schön", dieser Vorfall war ein Ausrutscher.
Einer, den er jahrelang nicht seiner Vergangenheit zuschreiben mochte. Otto Behnck neigt weder zum Psychologisieren noch dazu, sich als Opfer zu gerieren. Glückstadt, das sollte mit seinem Leben nichts mehr zu tun haben. "Wenn du Leuten erzählst, dass du ein Heimkind bist, dann denken die doch immer, oha, irgendwas Schlimmes wird der schon ausgefressen haben, grundlos landet man da schließlich nicht." Also hat er geschwiegen. 35 Jahre lang.
Die Gitter vor den Fenstern, die Demütigungen der Erzieher, die Schikanen der anderen Zöglinge, zwanzig Mann in einem Schlafsaal, die Arbeit auf dem Strickboden. Fischernetze musste er dort knüpfen, sechs Tage die Woche, unbezahlt. Seine Fluchtversuche, die Schläge zwischen die Beine, auf den Rücken, auf den Kopf, der Suizid eines Jugendlichen, die tage-, manchmal wochenlange Isolierung in der "Box" oder im "Bunker", wo es außer einer Pritsche und einem Eimer für die Notdurft nichts gab - am Ende schienen die Erinnerungen nicht einmal mehr Otto Behnck selbst zugänglich zu sein.
Bis zu jenem Tag im Frühherbst 2006. Otto Behnck war beim Jugendamt in Kiel, es ging um den Unterhalt für seine jüngste Tochter. Die Sachbearbeiterin hatte vermutlich einzig das Kindeswohl im Auge. Aber sie sprach in jenem Befehlston, auf den Otto Behnck allergisch reagiert: Was denn, das ist Ihr Jahreseinkommen? Guter Mann, Sie melden Ihr Gewerbe mal ganz schnell ab und suchen sich einen Job mit ordentlicher Bezahlung. Zwanzig Bewerbungen, bis in vier Wochen. So in dem Stil.
"Ich hab mich mit den Armen auf dem Schreibtisch abgestützt und bin mit meinem Kopf ihrem ganz nah gekommen. Ich hab sie angebrüllt. Dass ich in Glückstadt war und weiß, was Gewalt ist, und ob sie diese Gewalt auch mal erfahren will." Nur weil sie eine Frau war, hat er nicht zugeschlagen.
Seither gehört Glückstadt wieder zu Otto Behncks Leben. Denn wenn ein nichtiger Vorfall einen solch unkontrollierten Ausbruch auslösen konnte, dann musste er in Erfahrung bringen, was ihm und den anderen im Landesfürsorgeheim wirklich geschehen ist. Unrecht, so viel war klar.
Dass er 1970 überhaupt dort landet, verdankt er seinen Eltern. Die halten ihren Sohn für missraten, weil der für lange Haare und Jimi Hendrix schwärmt und weil er die Lehre abgebrochen hat. "Ich war nicht politisch, mir ging es um das Lebensgefühl", sagt Behnck. Einmal trampt er heimlich nach Dänemark. Danach ist das Maß voll. Bei der Rückkehr wird er ins geschlossene Heim eingewiesen, der Vater hat das Jugendamt darum gebeten, seine Mutter ruft die Polizei, damit sie ihn nach Glückstadt bringe.
Bis 1945 nutzten die Nazis das dortige Gebäude als Konzentrationslager für Arbeitshäftlinge. Nach dem Krieg waren es Kinder und Jugendliche, einige straffällig, andere aufmüpfig oder aus prekären Verhältnissen, deren Leben hier, in der Obhut des Staates, nachhaltig zerstört wurde: Mindestens 7.000 Zwölf- bis Einundzwanzigjährige wurden von 1949 bis 1974 zur "Umerziehung" eingesperrt und zur unentgeltlichen Arbeit gezwungen. Sowohl im Heim als auch bei Betrieben im Ort. Für die Einweisung bedurfte es nicht etwa eines richterlichen Beschlusses. Es genügten die Auffassung des Jugendamts und die Zustimmung der Eltern.
Wer dagegen rebellierte, wurde geprügelt, gedemütigt, weggesperrt. Zu den Erniedrigungen gehörte auch, dass die Zöglinge die Häftlingskleidung der Nazis auftragen mussten. Sogar die alten KZ-Karteikarten wurden weiterhin verwendet. "Inwieweit das auch für das Aufsichtspersonal gilt, müssen wir noch herausfinden", sagt Otto Behnck. "Wenn das so ist, dann knallts richtig."
Bislang ist die Glückstädter Heimgeschichte weitgehend unerforscht - politisch wie historisch wie wissenschaftlich (siehe Kasten). Zwar wurde die Anstalt 1974 nach einer Heimrevolte und auf politischen Druck hin geschlossen. Rehabilitiert oder gar finanziell entschädigt wurde dagegen niemand. Bevor Otto Behnck sich vor einem Jahr mit seiner Internetseite auf der Suche nach ehemaligen Zöglingen, Zeitzeugen und Dokumenten an die Öffentlichkeit wandte, gab es lediglich eine Diplomarbeit aus dem Jahr 1997. Die untersuchte am Beispiel Glückstadt, wozu ein Umgang mit jugendlichen Straftätern und Schwererziehbaren führen kann, der einzig auf Bewachen, Strafen und Isolieren basiert: zu Revolten, Selbstmorden oder weiterer Kriminalisierung der Zöglinge. Die Lektüre wäre für manchen heute aufgeregten Wahlkämpfer in Hessen und anderswo durchaus empfehlenswert.
Ihr Verfasser, der Sozialpädagoge Karsten Hanstein, erinnert sich, wie mühsam die Recherche war. Der Zugang zu vielen Originaldokumenten blieb ihm verwehrt, ehemalige Erzieher wimmelten ihn ab. Das für Heimerziehung und Fürsorge zuständige Kieler Sozialministerium wusste angeblich keinen Rat, das Landesarchiv ließ 7.000 Zöglingsakten, die in seinen Kellern lagern, unerwähnt. Deren Existenz wurde erst 2007 bestätigt - da hatte Otto Behnck im Ministerium auf den Putz gehauen.
Zehn Jahre zuvor war einzig der ehemalige RAF-Terrorist Peter-Jürgen Boock bereit, über den Heimalltag zu berichten. Boock war 1968, mit 17 Jahren, in Glückstadt gelandet, weil er von zu Hause abgehauen und in Holland mit ein paar Gramm Haschisch geschnappt worden war.
Boock als Kronzeuge von Glückstadt? Rolf Breitfeld aus Berlin winkt genervt ab. "Der war doch immer nur der Karl May der RAF", sagt der 59-Jährige. Von 1964 bis 1966 war er, von seinen Eltern ungeliebt und geprügelt, nach Glückstadt abgeschoben worden. Nein, mit Boock möchten er und die knapp zwei Dutzend ehemaligen Zöglinge, die Otto Behncks Aufruf gefolgt sind und jetzt öffentlich sprechen, nichts zu tun haben.
Denn Boocks Lebensweg gleicht nicht ihren Karrieren nach der Heimentlassung - die verliefen meist unspektakulär, wenn auch nicht minder deprimierend, ohne Geld, Schul- oder Berufsabschluss. Wenn sie aber später mit Drogen handelten, Menschen ausraubten, betrogen, verletzten oder sich selbst das Leben nahmen, dann nicht, weil sie angeblich die Gesellschaft revolutionieren wollten. Sondern, wie es Otto Behnck formuliert: "Weil du nach Glückstadt entweder untergegangen oder als Schwein rausgegangen bist." Keine Talkshow hat sich jemals für derartige Befindlichkeiten interessiert - ohnehin hätten die wenigsten sie zuschauergerecht artikulieren können.
Zumindest aber Respekt und eine finanzielle staatliche Entschädigung fordern sie jetzt. "Mir beispielsweise fehlen eineinhalb Jahre Rente", sagt Rolf Breitfeld. Nach seiner Entlassung aus Glückstadt fuhr er einige Jahre zur See, später arbeitete er in Berlin als Schlosser, einem Beruf, dessen Ausbildung abzuschließen ihm während seiner Zeit im Heim verweigert wurde. Als er vor etwa dreißig Jahren das Land Schleswig-Holstein auf den fehlenden Lehrabschluss verklagen wollte, sagte ihm ein Anwalt, die Sache sei aussichtslos.
Rolf Breitfeld hat dann Menschen geschleust, aus der DDR in den Westen. Nicht aus Nächstenliebe oder politischer Überzeugung, es war lukrativ: Zwischen 15.000 und 35.000 Mark bekam er für jede erfolgreiche Flucht. Er hat die alten Verträge in Aktenordnern aufbewahrt. Einmal schickte er sogar eine Mahnung an die in der DDR verbliebene Mutter eines zahlungssäumigen Flüchtlings. Als er 1975 am Grenzübergang Staaken mit zwei DDR-Bürgern im Kofferraum geschnappt wurde, versuchte er erst gar nicht, sich herauszureden. Viereinhalb Jahre war er danach im Stasi-Knast - "schlimmer als Glückstadt waren die Jahre im Gefängnis dann auch nicht."
Spuren hinterlassen haben sie dennoch. Eine neurotische Depression haben Ärzte diagnostiziert und seine Frühverrentung durchgesetzt. Seine Wohnung verlässt Rolf Breitfeld heute nur noch selten; sein Geld spart er für Reisen mit seiner Frau, einer gebürtigen Philippinin, in deren alte Heimat. Das, sagt Rolf Breitfeld, sind für ihn die schönsten Momente. Auf den Philippinen können sie mit seiner Vergangenheit sowieso nichts anfangen. Und wenn er wieder nach Berlin kommt und die Depressionen oder die Wut ihn einholen, dann hat er sich für alle Fälle einen Punchingball aufgehängt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers