Justizirrtum in Sachsen: Zwei Freisprüche, ein Doppelmord
Ein Mann hat 1993 zwei Männer erschossen. Trotzdem muss er nach 17 Jahren Haft jetzt vielleicht nicht länger in Haft, entschied der Bundesgerichtshof.
BERLIN taz | Der Bundesgerichtshof hat zum zweiten Mal ein Urteil zu einem Doppelmord in Sachsen aus dem Jahr 1993 aufgehoben. Der in erster Instanz zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilte Vietnamese, der nach der Verbüßung von 17 Haftjahren wegen Justizirrtums freigesprochen und aus dem Gefängnis in eine geschlossene Psychiatrie überwiesen wurde, kann nun eventuell in Freiheit weiterleben. Darüber muss laut Bundesgerichtshof das Landgericht Dresden in einem neuen und nunmehr dritten Verfahren entscheiden.
Der heute 42-Jährige kam im Wendejahr 1989 als vietnamesischer Vertragsarbeiter nach Sachsen. Im August 1993 erschoss er zwei Landsmänner in Plauen. Daran gibt es keinen Zweifel. Anschließend stellte er sich der Justiz. Er wurde 1994 in erster Instanz zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Im vergangenen Herbst wurde der Mann, an dessen Schuldfähigkeit zum Tatzeitpunkt zwischenzeitig Zweifel aufgekommen waren, aus der JVA in eine geschlossene Psychiatrie überstellt.
Das Verfahren wurde neu aufgerollt. Der Mann wurde Anfang dieses Jahres vor dem Landgericht Chemnitz wegen einer durch eine Schizophrenieerkrankung verursachten Schuldunfähigkeit freigesprochen. Allerdings wurde ihm die Haftentschädigung verweigert. Außerdem sollte er laut Richterspruch weiter in der geschlossenen Klinik bleiben. Dort hatte er allerdings nach fast zwei Jahrzehnten Anspruch auf eine Therapie.
Im ersten Verfahren 1994 wurde ein zum damaligen Zeitpunkt 79-jähriger bayerischer Medizinalrat, der Chirurg, aber nicht Psychiater war, als Sachverständiger hinzugezogen. Der Mediziner brauchte damals lediglich zwei Sitzungen, um den Angeklagten zu untersuchen. Bereits am Folgetag war sein Gutachten fertig. Ergebnis: Der Vietnamese sei voll schuldfähig. Daran kamen im Laufe der Haftzeit Zweifel auf.
"Freiheit oder Psychiatrie"
Der Verurteilte soll sich sehr merkwürdig verhalten haben. Sein neuer Anwalt Arno Glauch, der in die Prüfung der vorzeitigen Haftentlassung nach 15 Jahren einbezogen wurde, beantragte neue Gutachten. Die kamen zu anderen Ergebnissen. Glauch zufolge war "die Heranziehung von Westrentnern symptomatisch für den Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern nach der Wende".
"Der Bundesgerichtshof hat den Freispruch des Landgerichtes Chemnitz bestätigt", sagt Arno Glauch der taz. Aufgehoben wurde allerdings die Anordnung, ihn in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen. "Der Bundesgerichtshof meinte, dass der Gesundheitszustand meines Mandanten und sein psychisches Verhalten während der Haftzeit durch das Landgericht Chemnitz nicht ausreichend geprüft wurden."
Über die Frage "Freiheit oder Psychiatrie" muss nun das Landgericht Dresden entscheiden. Ebenso wird dort die Frage einer Haftentschädigung neu aufgerollt werden müssen. Bis zur Entscheidung bleibt der Mann in der Klinik.
Schwierig wird auch die Entscheidung, ob sich der Mann weiter in Deutschland aufhalten darf. Wegen seiner Inhaftierung konnte er in den Neunzigerjahren nicht vom Bleiberecht für ehemalige Vertragsarbeiter profitieren. Ob hier eine Altfallregelung greift, ist umstritten. In vergleichbaren Fällen hat Vietnam deutschen Behörden diese Entscheidung abgenommen: Das Land verweigert öfter die Aufnahme psychisch auffälliger Landsleute aus dem Ausland.
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